Wendland & Adrian 02 - Die Krypta
Kristalltunnel. Zugleich blieb sich Chris ihrer äußeren Umgebung bewusst. Sie hörte das Summen des alten Kühlschranks drüben in der Küche und spürte unter sich das feste Holz des Stuhls. Die Bärenkraft durchströmte sie, ließ Chris' Körper auf dem Stuhl scheinbar größer und massiger werden. Sie gelangten in eine offene, freundliche Parklandschaft mit weiten Rasenflächen und großen, einzeln stehenden Bäumen. Das Wetter war bedeckt, über dem Land hing ein grauer Nebel. Die Bärin trabte zielstrebig auf einen besonders schönen Baum zu, eine mächtige Kastanie. Als sie näher kamen, sah Chris, dass der Baum krank war. Die großen Blätter waren fast vollständig abgefressen. Als sie vor dem Baum Halt machten, verzog Chris erschrocken das Gesicht. Die Zweige der Kastanie waren mit Knäueln gierig fressender Raupen übersät. An dem ganzen Baum gab es kein einziges unversehrtes Blatt mehr. Auch auf den bereits abgefallenen Blättern drängten sich die Raupen, und ihre knisternden Fressgeräusche erfüllten als bedrohliches Gewisper die Luft. Chris hob ein halb zerfressenes Blatt auf, an dem mehrere Raupen hingen. Sie waren hässlich, mit großen, scharfkantigen Beißwerkzeugen. Von ihren bleichen, aufgeblähten Körpern ging ein kaltes, bläuliches Leuchten aus, das Chris ein Schaudern über den Rücken jagte. Angewidert ließ sie das Blatt fallen. Wenn diese Kastanie Heikes Lebensbaum war, dann brauchte sie Hilfe, und zwar dringend. Chris überlegte. Das wichtigste Hilfsmittel der Schamanin war ihre Phantasie. Wie konnte sie diesen ekligen Raupen beikommen?
Das Bild einer Drossel tauchte auf, die mit einer Raupe im Schnabel vom Boden aufflog. Gut. Chris stellte sich einen riesigen Drosselschwarm vor. Alle Drosseln, die verstreut in dieser Parklandschaft lebten, scharten sich zusammen. Erfreut sah Chris, wie die Vision Gestalt annahm. Von überall her flogen Drosseln zu der Kastanie, vereinigten sich zu einer großen Wolke und stürzten sich auf die Raupen. Chris schaute dem Festmahl der Drosseln fasziniert zu. Je mehr bläulich leuchtende Raupen in den Vogelmägen ver schwanden, desto mehr schien die ganze Atmosphäre sich zu verändern. Der graue Nebel über den baumbestandenen Wiesen lichtete sich, erste Sonnenstrahlen brachen durch. Die Zweige der Kastanie richteten sich auf. Wie im Zeitraffer sprossen gesunde, frisch glänzende Blätter hervor.
Im ersten Flecken blauen Himmels, der über dem Baum sichtbar wurde, entdeckte Chris einen Falken. Laut schreiend stieß er durch die sich auflösenden Nebelschleier herab. So dicht über Chris' Kopf, dass sie den Luftzug seiner Schwingen spüren konnte, drehte er bei und blieb, etwas entfernt, rüttelnd in der Luft stehen. Als er dann hoch oben im dunstigen Himmel verschwand, spähte Chris wachsam umher. War der Falke Heikes Krafttier? Wenn ja, würde er sich wieder zeigen. Und richtig, da war er, stieß erneut aus der Höhe herab, flog einen weiten Kreis um die Kastanie, an der immer mehr frische Blätter sprossen, und landete dicht vor Chris im Gras. Sie bückte sich und der Vogel ließ sich widerstandslos von ihr aufnehmen. Rasch kehrte sie mit ihm und der Bärin durch den Kristalltunnel zurück.
Sie öffnete die Augen, legte ihre Hände auf Heikes Brust und hauchte ihr die Seele des Falken ein. Jetzt schlug auch Heike die Augen auf. »Es ist ein Falke, stimmt's?«, sagte sie, während sie sich aufsetzte.
Da wusste Chris, dass ihre Suche erfolgreich gewesen war, und lächelte. »Seine Kraft ist jetzt bei dir.«
»Dieser Baum mit den hässlichen blauen Raupen ... Du hast ihn gesund gemacht, und dann ist der Falke gekommen. Ich habe alles deutlich gesehen. War es so?« Heike schüttelte verwundert den Kopf.
»Ja«, sagte Chris leise. »Es war so.«
»Ich fühle mich besser als vorher. Weniger ... ängstlich.«
»Du musst jetzt dein Tier tanzen, um ein Gefühl für es zu bekommen. Du solltest immer wieder bewusst Verbindung zu dem Falken aufnehmen und dir von ihm in deinem Alltag helfen lassen. Dann freut er sich und bleibt lange bei dir.«
Heike stand auf und machte einige zaghafte Schritte durchs Wohnzimmer. »Wie tanzt man denn einen Falken?« Ihre Stimme klang unsicher.
»Frag ihn«, sagte Chris. »Lass es dir von ihm zeigen.«
Heike lachte. »Er zeigt es mir tatsächlich!« Sie breitete die Arme aus und machte kreisende Schritte, als wollte sie jeden Augenblick vom Wohnzimmerteppich abheben. Dann blieb sie plötzlich stehen und ließ die Arme
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