Wendland & Adrian 03 - Nachtauge
erreichte man bei ihr mit Freundlichkeit. Krupka vermutete, dass der Chef sie vor allem eingestellt hatte, damit sie ihm lästige Leute abwimmelte. »Sagen Sie, ist Herr Direktor Felten zu sprechen?«
»Tut mir Leid, Herr Krupka, aber der Herr Direktor ist in die Stadt gefahren. Er hat heute einen wichtigen Termin beim Oberbürgermeister. Wegen des geplanten Ausbaus der Raffinerie. Ist es dringend? Dann müsste ich ihn aus der Sitzung rufen lassen ...« Der Unterton ihrer Stimme legte nahe, dass sie dazu nur im Falle von Erdbeben und anderen Großkatastrophen bereit war.
»Nein, nicht nötig. Sagen Sie mir bitte Bescheid, wenn er wieder im Haus ist?«
»Rufen Sie doch einfach in zwei Stunden wieder an.« Ihm Bescheid zu geben hielt sie offenkundig für unter ihrer Würde.
Krupka unterbrach die Verbindung und fluchte mit zusammengebissenen Zähnen. Nach allem, was er darüber gehört hatte, verliefen die Verhandlungen mit der Stadt wegen der Erweiterung zäh. Der Termin konnte sich also hinziehen. Krupka musste nun davon ausgehen, dass der Chef seine Meinung bezüglich der Raubkatze nicht geändert hatte, sonst hätte er ihm das gewiss mitgeteilt, ehe er zur Stadtverwaltung fuhr. »Aber warum?«, murmelte Krupka. »Es ergibt einfach keinen Sinn.« Er hoffte inständig, dass er noch Gelegenheit erhielt, mit dem Chef zu sprechen, ehe er am Nachmittag auf dem Polizeipräsidium erscheinen musste. Diese knochenharte Kommissarin würde ihn nach Strich und Faden in die Mangel nehmen. Er streckte sich wieder auf der Pritsche aus, doch an Schlaf war überhaupt nicht zu denken.
2. KAPITEL
»Da habt ihr mir ja mal wieder eine nette Leiche gebracht!« Dr. Toni Walterscheid gab Susanne die Hand.
»Kann ich nicht beurteilen, Toni. Ich habe diesen Sempold noch gar nicht zu Gesicht bekommen.«
Toni war ein Urkölner, Mitte fünfzig, der mit seiner grauen Tolle und dem großen Schnäuzer etwas an den seligen Willy Millowitsch erinnerte.
»Na, dann wird’s aber Zeit! Ein wirklich interessanter Anblick.«
Torsten war nach Hause gefahren, Schlaf nachholen. Und Susanne hatte Tönsdorf am Präsidium abgesetzt, weil er sich im Büro nützlich machen sollte. Damit, dass er ihr den größten Teil des lästigen, von ihr zutiefst gehassten Schreibkrams abnahm, leistete Tönsdorf, wie sie fand, unschätzbare Dienste, die sich kaum in Gold aufwiegen ließen.
Toni zog die Pritsche mit der Leiche scheppernd aus dem Kühlregal. Susanne biss die Zähne zusammen. Ganz zur Routine wurde dieser Teil ihrer Arbeit nie. Früher hatte sie das geglaubt, aber so war es nicht und auch in zehn oder zwanzig Jahren würde es wohl nicht so sein. Aus den Schuhen gekippt war sie bei einer Leichenschau allerdings noch nie. Dazu war sie dann doch ein zu harter Knochen. Aber sie wusste, dass Toni für solche Fälle (bei jungen, unerfahrenen Beamten kam es nicht selten vor) in seinem Büro stets einen starken Schnaps bereithielt.
»Wie ich gesagt hab: wirklich interessant.« Toni fuhr sich mit der Hand durch seine Tolle.
Der vordere Teil von Sempolds Hals war, vom Kinn bis zum Schlüsselbein, vollkommen zerfetzt. Susanne schluckte. Sie fragte sich, wie der Mörder das bewerkstelligt haben mochte, mit welcher Waffe. Das musste die Tat eines Wahnsinnigen sein.
»Ich frage mich, mit was für einem Mörder wir es hier zu tun haben, Toni. Wer tut so was? Und warum?«
»Ich glaube, es handelt sich diesmal nicht um Mord im eigentlichen Sinn.«
Susanne schaute Toni erstaunt an. »Du willst doch wohl nicht behaupten, dieser Typ hier sei eines natürlichen Todes gestorben?«
Toni deutete auf einige tiefe rote Einschnitte auf der Brust des Toten. »Wonach sieht das deiner Meinung nach aus?«
Susanne schaute genauer hin. »Hm. Messerschnitte?« Nein. Diese Verletzungen erinnerten sie an etwas anderes. Kratzwunden. Tiefe, lange Kratzer.
Toni schaute auf die Uhr. »Er müsste gleich da sein.«
»Wer?«
»Harry.«
Toni machte sich gern einen Spaß daraus, Leute auf die Folter zu spannen.
»Nun, sag schon! Wer ist denn dieser Harry?«, fragte Susanne.
»Ein waschechter Kölner, so wie ich.«
»Waschechte Kölnerin bin ich auch. Was ist daran Besonderes?«
»Harry ist für einen Rheinländer ungewöhnlich reiselustig. Er ist eigentlich immer unterwegs. Außer an Karneval. Da zieht’s ihn alle Jahre wieder nach Köln zurück.«
Natürlich. Susanne grinste. Die schönsten Klischees über die Rheinländer, und die Kölner im Besonderen, waren keineswegs
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