Wendland & Adrian 03 - Nachtauge
war. Weil er sich davor fürchtete, allein zu sein? Er hatte seine Pistole, mit der er umzugehen verstand. Er konnte sich seiner Haut erwehren. Doch sie hatte Sempold so schnell angesprungen, wie ein Blitz war sie auf ihn zugeflogen. Er blickte nervös umher. Überall Schatten. Zwischen Rohren und Kesseln und Wartungsleitern. Überall Schatten, aus denen zwei leuchtende gelbe Augen hervorstarren konnten. Er fing an zu zittern. »Becker!«, rief er. »Wo stecken Sie denn?« Ich könnte in die Luft schießen, dachte er. Damit würde ich sie gewiss verjagen.
Er sah die Augen aus den Schatten auftauchen, gelbe Katzenaugen. Ganz genau so, wie er es befürchtet hatte. Als hätte der Geruch seiner Angst sie angelockt. Dann flog sie auf ihn zu und da war keine Zeit, zu zielen und abzudrücken. Er stolperte einen Schritt zurück, sah lang ausgestreckte Vorderbeine, große Pranken. Die Krallen gruben sich wie Messer in seine Brust. Da war eine sekundenkurze Ahnung heißen Tieratems. Große, scharfe Zähne. Augen, die Blitze abzuschießen schienen. Seine Kehle schmerzte wieder, aber jetzt war es ein unerträglicher Schmerz, der sich in heißen Wellen nach allen Seiten ausbreitete. Dann schlug sein Hinterkopf auf dem Asphalt auf und er verlor das Bewusstsein.
3. KAPITEL
Susanne wollte während ihres freien Wochenendes durch nichts behelligt werden. Ohne Zeitung gelesen oder Radio gehört zu haben, ging sie früh am Morgen von ihrer Dachwohnung nahe dem Chlodwigplatz zu Fuß zum Hauptbahnhof, wo sie rasch einen Kaffee im Stehen trank, ein Croissant aß und danach ihre ersten zwei Zigaretten rauchte. Zu Chris in die Eifel fuhr sie nach Möglichkeit mit dem Zug, eine entspannende Fahrt auf einer ländlich grünen Nebenstrecke. Chris holte sie dann in Buchfeld am Bahnhof ab.
Köln lag unter leuchtend blauem Morgenhimmel und während der Zug durch die Vororte ratterte, fühlte sich Susanne ansatzweise ein ganz klein wenig glücklich. Sie freute sich auf Chris, auf Jonas, auf Chris’ zotteligen braunen Medizinhund namens Mister Brown, auf die beiden großen, dicken Rückepferde, die Katzen, den Wald gleich vor Chris’ Tür und den Waldsee, dessen Wasser vielleicht schon warm genug war, um darin zu schwimmen. Susanne hatte früher viel Sport getrieben, Leichtathletik – sie war eine exzellente Sprinterin gewesen. Vor allem aber war sie immer schon leidenschaftlich gern geschwommen. Als junge Schwimmerin hatte sie es immerhin bis zu den Deutschen Jugendmeisterschaften gebracht. Später hatte sie dann in der Polizeisportgruppe trainiert und etliche Urkunden und Ehrennadeln eingeheimst. Seit einigen Jahren schwamm sie nur noch für sich, ohne sportlichen Ehrgeiz, zog dreimal in der Woche im Schwimmbad ihre Bahnen. Vermutlich war sie deshalb trotz der vielen Zigaretten noch relativ fit. Doch das Schwimmbad hielt keinem Vergleich mit Chris’ Waldsee stand: Dort zu schwimmen war schlichtweg ein Genuss. Das Wasser war herrlich weich und klar. Und es gab Fische zu beobachten! Auf die Dauer in der Eifel zu leben wäre Susanne aber vermutlich zu eintönig geworden, dazu war sie dann doch zu sehr Stadtmensch. Nach einigen Tagen fing sie an die pulsierende Aktivität Kölns zu vermissen. Rastlosigkeit ist sicher einer meiner ausgeprägteren Wesenszüge, dachte sie und betrachtete dabei ihr sich schemenhaft im Zugfenster spiegelndes Gesicht. Immerhin, ein Vorteil des Älterwerdens bestand darin, dass sie inzwischen in der Lage war ihr unruhiges inneres Hin und Her mit einer gewissen Amüsiertheit zu beobachten.
Die eintönig weite Fläche der Kölner Bucht wurde von den hügeligen Wiesen und Wäldern der Eifel abgelöst. Wie immer hatte Susanne ein Buch eingepackt, diesmal »Seide« von Alessandro Baricco, das ihr Torsten Mallmann empfohlen hatte, der seine Nase ständig in Bücher steckte. Und wie immer hatte sie noch keine Seite gelesen, sondern nur aus dem Fenster geschaut. Jetzt stand sie auf, öffnete das Fenster und ließ sich den frühlingswarmen Fahrtwind um die Nase wehen. Ihr letzter Eifelbesuch lag zwei Monate zurück. März. Da hatte es noch Schnee gegeben und am Morgen einen Garten voller Raureif.
Sie atmete tief durch. Hier draußen sank ihr Nikotinverlangen drastisch. Das Rauchen hatte bei ihr eindeutig irgendetwas mit der Großstadt zu tun.
Und dann war sie auch schon in Buchfeld. Der Zug rollte in das beschauliche, wenn auch nicht völlig von Gewerbegebieten, Baumärkten und Autohäusern auf der grünen Wiese verschont
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