Wendland & Adrian 03 - Nachtauge
denn an?«, überlegte Chris laut. »Mohn? Ja, ich fange mit Mohn an.« Während Susanne den rumpelnden Diesel zum Leben erweckte, biss Chris mit sichtlichem Genuss in ihr Stück Mohnstreuselkuchen.
Wenigstens verfügte das Monstrum über eine Servolenkung. Susanne steuerte den Landy durch Buchfeld hinaus auf die wohl vertraute Landstraße, die hoch in den Wald führte, und kam sich dabei vor wie am Ruder eines Schlachtschiffs. Nach dem Mohnstreusel ging Chris zum Kirschstreusel über. »Ich hatte übrigens einen verrückten Traum«, berichtete sie mit vollem Mund über das Dieselbrummen hinweg. »Davon habe ich dir am Telefon noch gar nichts erzählt.«
»So?« Chris’ Träume waren ein Kapitel für sich. Susanne kannte sonst keinen Menschen, der ähnlich verrückte Träume hatte. Andererseits war Chris aber auch die einzige Schamanin, die sie kannte. Was die Träume von Schamanen anging, besaß sie also keine Vergleichsmöglichkeiten.
»Silver Bear hat mich im Traum besucht.«
Susanne glaubte alles über Silver Bear zu wissen, denn Chris erzählte gerne und viel von ihm. Wenn die Geschichten, die Chris über ihn zu berichten wusste, auch nur zur Hälfte stimmten, war diesem alten Halunken so ziemlich alles zuzutrauen, selbst, dass er als Untoter herumgeisterte und Chris im Traum besuchte. Wissenschaftlich betrachtet war das natürlich blanker Unsinn. Aber wenn man länger mit Chris befreundet war, gerieten schulwissenschaftliche Denkgebäude zunehmend ins Wanken. Was Susanne durchaus erfrischend fand. Auch wenn sie leidenschaftlich an ihrer abgebrühten Skepsis festhielt – allein schon, um Chris ein bisschen zu frotzeln.
Sie grinste. »Klar. Warum auch nicht? Wie lange ist er jetzt tot?«
Chris hielt einen Moment mit dem Kauen inne. »Zwei Jahre. Aber da ist nur ein dünner Schleier zwischen dieser Welt und der anderen. Jedenfalls kommt es mir manchmal so vor.« Sie hob die Schultern. »Wie heißt’s so schön? Der Tod ist nur ein Wechsel der Welten.«
Wenn es wirklich so einfach war, wenn der Tod letztlich so wenig bedeutete, wieso gaben sich Susanne und ihre Kollegen dann überhaupt damit ab, Gewaltverbrechen aufzuklären? Aber Susanne hatte keine Lust mit Chris über dieses Thema zu diskutieren. Das führte zu nichts und sie wollte den schönen Tag nicht verderben.
Chris’ Gesicht wurde unvermittelt ernst, als zöge eine dunkle Wolke darüber hinweg. Solche raschen Stimmungsumschwünge kamen bei ihr nicht selten vor. Sie schluckte den letzten Bissen des Kirschstreusel-Teilchens hinunter, legte die Bäckereitüte auf die Ablage zwischen den Sitzen und wischte sich mit dem Handrücken die Krümel vom Mund. Ihre Augen wurden schmal und nachdenklich. »Silver Bear hat sonderbare Sachen gesagt, deren Sinn ich noch zu wenig verstehe, um darüber sprechen zu können. Aber in dem Traum war noch etwas Seltsames – eine große schwarze Raubkatze, ein Jaguar. Keine Ahnung, warum ich mir so sicher bin, dass es ein Jaguar war, aber ich weiß es einfach. Ich glaube, dieser schwarze Jaguar hat einen Menschen getötet.«
Susanne trat abrupt aufs Bremspedal und hielt am Straßenrand. Sie starrte Chris an. »Was sagst du da? Aber ...«
Chris zwirbelte den kleinen, vor ihrer Stirn baumelnden Zopf. »Na ja ... ich glaube, es muss in irgendeiner Industrieanlage passiert sein, wo so ein Jaguar eigentlich gar nichts verloren hat. Ich ... habe ihn springen sehen, aber er hatte es nicht auf mich abgesehen, glaube ich. Es war ein anderer Mensch, den er getötet hat.«
Susanne nickte. Sie atmete seufzend aus. »Ich weiß. Einen gewissen Sempold.« Muss ich mich wundern, dachte sie mit einem flirrenden, schwankenden Gefühl im Kopf, muss ich mich überhaupt noch über irgendetwas wundern?
Jetzt war es an Chris erstaunt zu starren. »Was? Du ... du meinst, es ist wirklich passiert ?«
Susanne räusperte sich, tastete etwas fahrig nach den Zigaretten in der Tasche ihrer Jeansjacke, zündete sich eine an und nahm einen tiefen Zug. »Hab gestern Morgen seine Leiche in der Gerichtsmedizin besichtigen dürfen. Der Jaguar hat ein ziemlich großes Stück aus seiner Kehle herausgebissen.«
Chris schluckte. »Glaub mir, es ist nicht immer angenehm das zweite Gesicht zu haben. Wenn ich könnte, würde ich meine Gabe gerne gegen eine andere eintauschen, die mehr Spaß macht – Klavier spielen können, zum Beispiel.«
Susanne musste unwillkürlich lachen. Dabei war ihr gar nicht wirklich nach Lachen zumute. Mit Chris erlebte man
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