Wendland & Adrian 03 - Nachtauge
sozusagen. Dann fliegen eben die Funken oder die Fetzen, bis wir wieder brav in die vorgesehene Bahn zurückkehren – mit demütig gebeugter Birne.« Er deutete hinter dem Lenkrad eine fromme Verneigung an.
»Dieses Universum finde ich eigentlich ziemlich langweilig«, fuhr er fort. »Es lässt wenig Raum für Spaß und Spiel. Der Gott, der es erschaffen hat, muss ein reichlich dröger Verwaltungsbeamter sein. Außerdem stellt sich natürlich die Frage, warum in diesem wohlgeordneten Uhrwerksuniversum so viel chaotischer Schwachsinn passiert, wie wir Polizisten ihn ja tagtäglich zu Gesicht bekommen. Das hat mich schon damals bei der Mordkommission beschäftigt. Ich meine, wenn alles einen Sinn hat im Sinne von Vorherbestimmung und Ursache und Wirkung, wieso sind die meisten Gewaltverbrechen dann so offenkundig schwachsinnig? Warum gibt es da so viel Absurdes, bei dem sich beim besten Willen nicht erkennen lässt, dass die göttliche Vorsehung in weiser Ausgewogenheit tätig war?«
Ähnliches hatte Chris von Jonas schon öfters gehört, aber irgendwie gelang es ihm immer wieder, bei seinen philosophischen Exkursen neue Akzente zu setzen und die Dinge auf neue Weise zu beleuchten, sodass es nicht langweilig wurde. Vielleicht schenke ich ihm mal eine Tonne zum Geburtstag, dachte sie. Die kann er sich dann bei uns im Wald aufstellen und darin wohnen wie Diogenes und die Leute reisen von weit her an, um ihm zu lauschen.
»Die andere Richtung geht die Sache spielerischer an.« Chris mochte seinen Gesichtsausdruck, wenn er philosophierte. »Sie geht eher davon aus, dass das Universum sich ständig aus sich selbst heraus erschafft, in einem nie endenden Prozess. So gesehen ist es natürlich unvollkommen, was erklärt, wieso oft so ein erstaunlicher Schlamassel passiert. Alles befindet sich im Grunde in einer ständigen Experimentierphase – mit der Chance, dass die Dinge mit der Zeit immer ein bisschen schöner und harmonischer werden. Wie aus einer Laienspielschar irgendwann ein richtig gutes Orchester werden kann, wenn sie nur lange genug übt. Offenbar besitzt das Universum einen ausgeprägten Spieltrieb und ist bestrebt sich selbst immer wieder mit seinen Schöpfungen zu überraschen. So ähnlich hätte es Alan Watts wohl ausgedrückt.«
Alan Watts war Jonas’ Lieblingsphilosoph. Er hatte ihn irgendwann in einem Secondhand-Buchladen entdeckt und inzwischen alle Bücher von ihm angeschleppt, von denen ein großer Teil nur noch auf Flohmärkten und in modernen Antiquariaten zu ergattern gewesen war. Chris hatte in ein paar der Bücher hineingeschaut und mochte Watts’ feinen englischen Humor und seine tiefe Liebe zur Natur, zur alltäglichen, greifbaren Natur, die in jedem seiner Sätze durchschimmerte.
»Und worauf philosophierst du heute hin?«, fragte sie. »Was ist die Botschaft?« Damit, auf den Punkt zu kommen, tat sich Jonas bei seinen geistigen Exkursen oft etwas schwer. Aber dafür hatte Chris Verständnis: In diesem sonderbaren Universum einen klar bestimmbaren Punkt zu finden, das war letztlich nicht einmal Silver Bear in seinem langen, suchenden Leben gelungen. Und selbst nach dem Tod schien der alte Vagabund diesen Punkt immer noch nicht gefunden zu haben – darauf ließen jedenfalls seine doch sehr vagen Äußerungen schließen, als er Chris vor ein paar Tagen im Traum besucht hatte.
»Positives Denken«, sagte Jonas. »Mir wird immer klarer, dass positives Denken eigentlich die einzig brauchbare Antwort darstellt. Intellektuell erfassen können wir das Universum sowieso nicht. Trotz all unserer technischen Errungenschaften können wir der Erkenntnis von Sokrates, ›Ich weiß, dass ich nichts weiß‹, im Grunde nicht viel hinzufügen.«
Chris war der Ansicht, dass Jonas all das, was ihm so im Kopf herumging, unbedingt aufschreiben sollte und inzwischen hatte sie ihn tatsächlich dazu überreden können, sich ab und zu ein paar Notizen zu machen. Die musste er ihr dann vorlesen und sie hörte mit geschlossenen Augen zu. Geistig war Jonas in der Buchfelder Polizeiwache eigentlich ziemlich unterfordert, fand sie.
»Jemand, der positiv denkt«, sagte Chris langsam, »wäre das, was Silver Bear und andere fortschrittliche Schamanen als Abenteuerschamane bezeichnet haben. Als Abenteuerschamane oder -schamanin gehst du davon aus, dass es DIE Wirklichkeit an sich nicht gibt. Alles ist relativ. Und eigentlich bleibt dir nur eines übrig: neugierig zu sein, deinen kindlichen Spieltrieb und deine
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