Wendland & Adrian 03 - Nachtauge
Kristalle vor. Der Stein muss bearbeitet worden sein. Und das ist noch nicht alles: Wie ich dir schon erzählt habe, besteht die Fassung, in die er eingesetzt ist, aus einem silbernen Metall, auf dessen Rückseite merkwürdige Piktogramme oder Hieroglyphen eingraviert sind. Könnten Maya-Schriftzeichen sein, hab ich mir überlegt. Na, jedenfalls kennen unsere Laborjungs dieses Metall nicht. Begreifst du? Es ist eine völlig unbekannte Legierung! Sie haben keine Ahnung, wo und wann und woraus sie hergestellt worden sein könnte. Momentan diskutieren sie sich deswegen die Köpfe heiß und telefonieren mit anderen Labors herum. Das Ganze ist offenbar eine wissenschaftliche Sensation.«
Chris zuckte die Achseln. »Ich sag ja immer: Diese Welt ist vollkommen verrückt, aber niemals langweilig. Los, komm! Mal sehen, welche Überraschungen dieser Schädelfreak für uns bereithält.«
Es handelte sich um ein normales Wohnhaus mit größeren Wohnungen. Thürmanns Institut befand sich offenbar in seiner Privatwohnung. Als sie am oberen Ende des kühlen, weißen Treppenhauses angelangt waren, drückte Susanne auf die Klingel.
Der Türsummer ertönte. Drinnen, in einem an eine Arztpraxis erinnernden Vorzimmer, empfing sie jene süßliche Pastellton-Aura, über die Chris, deren Spiritualität von eher erdiger, bodenständiger Art war, immer unwillkürlich schmunzeln musste. Im Hintergrund plätscherten leise esoterische Sphärenklänge. Ein Briefbeschwerer in Form einer gläsernen Pyramide stand auf dem Schreibtisch der Sekretärin und an den Wänden hingen bonbonfarbene Gemälde, von denen eine ausgeprägt einschläfernde Wirkung ausging.
Bei der Sekretärin selbst handelte es sich um ein hellblond gefärbtes, ganz in Weiß gekleidetes Häschen mit dünner Piepsstimme. Susanne zeigte ihren Dienstausweis vor und sagte: »Ich ermittle in einem Mordfall, in dem ein etwas sonderbarer Kristall eine Rolle spielt. Dazu würde ich gerne den Rat von Herrn Thürmann einholen.« Chris, die ganz legitimationslos an diesen Ermittlungen teilnahm, erwähnte Susanne gar nicht, was wohl auch besser war, denn wie hätte sie Chris vorstellen sollen: ehrenamtliche Kripohelferin, Expertin für angewandten Schamanismus? Nun gut, in dieser Umgebung hier hätte sich vermutlich niemand darüber gewundert.
»Einen Moment, ich sage Marc Bescheid«, flötete das Häschen und beugte sich über die Sprechanlage. »Marc ... hier sind zwei Damen von der Polizei. Sie brauchen deinen Rat bezüglich eines Kristalls.«
Telepathisch bekommen sie’s dann wohl doch noch nicht hin, dachte Chris und zwinkerte Susanne zu, belustigt über die ganze Atmosphäre in diesem Laden. Wenn man das Häschen genauer betrachtete, stellte man fest, dass es schon etwas älter war und einige Falten um Mund und Augen hatte.
Marc Thürmann erschien. Ganz so asketisch wie auf dem Zeitungsfoto wirkte er in Natur nicht. Sein khakifarbenes Tropenhemd spannte unübersehbar über einem kleinen Bäuchlein. Er trug eine ebensolche Hose. Den dazu gehörigen Tropenhut setzte er vermutlich nur im Dschungel auf. Auf seiner Brust baumelte an einer goldenen Kette ein roter Edelstein und an jeder Hand trug er drei goldene Ringe, ebenfalls mit Edelsteinen in unterschiedlichen Farben besetzt, von denen vermutlich jeder auf ein anderes Chakra einwirken sollte. Der Mann war eindeutig tief in jene esoterischen Bereiche abgetaucht, über die Silver Bear gern spöttische Witze gerissen hatte.
»Kommen Sie, wir gehen in mein Arbeitszimmer«, sagte er. Als er die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, fügte er hinzu: »Hier drin finde ich die Atmosphäre anregender. Das draußen ist eher eine Konzession an unsere Kundschaft. Das überlasse ich Mary Devananda. Sie hat zu Füßen diverser indischer Gurus gesessen und ein unfehlbares Gespür für die richtigen Zutaten.«
Chris und Susanne grinsten sich an. Einen gewissen Sinn für Humor besaß er immerhin.
Thürmanns Arbeitszimmer hatte das Flair eines Völkerkundemuseums. Es war voll gestopft mit aus ihrem Zusammenhang gerissenen Objekten aus der Welt der Ureinwohner, in diesem Fall die Welt der mittelamerikanischen Indianer, soweit Chris, die sich in Lateinamerika nicht so gut auskannte, dies beurteilen konnte. An den Wänden hingen Lanzen, gefiederte Pfeile und allerlei gespenstisch wirkende Tanzmasken. Auf Regalen und Kommoden stand ein ganzes Heer von Kultfiguren aus Holz oder Stein herum. Chris blieb fasziniert vor einem großen hölzernen Wesen
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