Weniger arbeiten, mehr leben
jedoch genau das, was viele Menschen schätzen und brauchen, ohne sich dessen überhaupt hinreichend bewusst zu sein: Eine Aufgabe, die sie bis an die Grenzen fordert, inmitten einer Organisation, die sie teilweise bis über das Erträgliche hinaus einbindet.
Ursache dieses Dilemmas ist das, was wir gemeinhin »Arbeitsethos« nennen; eine Einstellung, die Ergebnis unserer Erziehung und folglich tief in der Psyche der meisten Menschen verwurzelt ist. Das moderne Arbeitsethos besagt: Wer glücklich und geachtet sein will, rückt den Job in den Mittelpunkt seines Lebens. In der Konsequenz heißt das: Wer wenig arbeitet, ist wenig wert – wer viel arbeitet, umso mehr. Der Status im Job gilt weithin als gleichbedeutend mit dem Status im Leben. Gerade bei Männern ist das Arbeitsethos besonders stark ausgeprägt. Sie sehen sich selbst in der Rolle des Jägers, der morgens in den unbarmherzigen Dschungel aufbricht, um sich gegenüber einer feindlichen Umwelt zu behaupten, zu kämpfen und Beute zu machen. Auch die Art und Weise, wie andere uns einschätzen, folgt häufig unmittelbar aus dem, was wir in der Arbeitswelt repräsentieren. Als Kinder werden wir von den Erwachsenen zuerst gefragt: »Und was willst du später einmal werden?« Später steht man dann auf Partys beisammen, macht sich bekannt und fragt sich wieder: »Und was machen Sie beruflich?«
Nadine B. war leitende Managerin in einem Wellness-Hotel an der mecklenburgischen
Ostseeküste. Die 38-jährige Mutter von zwei Kindern verfügte zusammen
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mit Ihrem Mann über ein Jahreseinkommen von mehr als 100 000 Euro und vom
Auto bis zum Haus über alle denkbaren Insignien des Erfolgs. Der Preis für den
anspruchsvollen Lebensstil war: Zwölf bis vierzehn Stunden täglich Dienst am
Kunden, freundlich sein, lächeln und stets so tun, als sei man selbst im Urlaub.
Doch dann kam der Tag, an dem sich die alten Investoren verabschiedeten. Obwohl
es keinen Grund gab, Nadine B.s Leistungen zu bemängeln, ließ das neue Management
keinen Zweifel daran, dass man die entscheidenden Positionen nur mit
Leuten aus den eigenen Reihen besetzen wollte. Zwei Wochen später hatte sie
einen neuen Chef vor der Nase sitzen und wusste, dass sie gehen musste. Die dann
folgende, mehrmonatige Auszeit war entgegen ihren ursprünglichen Befürchtungen
keineswegs ein Unglück, sondern ein Hochgenuss. Zum ersten Mal seit Jahren
hatte sie wieder Zeit für all die Beschäftigungen, die bei einem anspruchsvollen Job
sonst zu kurz kommen. Und sie fasste den Entschluss, ihre Zukunft, ihren gesamten
Lebensplan neu zu überdenken.
Ihr Downshifting-Tipp:
Regelmäßige Auszeiten nehmen, in denen man
den eigenen Lebensweg überprüft.
Auch wenn einiges darauf hindeutet, dass sich dieses traditionelle Bild langsam zu verändern beginnt – noch immer ist es schwer vorstellbar, dass etwa ein Mann von Ende dreißig, der in Teilzeit arbeitet und seine Kinder erzieht, gesellschaftlich die gleiche Anerkennung genießt wie ein erfolgreicher Manager, der in einem angesehenen Unternehmen eine Abteilung mit hundert Mitarbeitern leitet – auch wenn Letzterer möglicherweise so stark unter Stress leidet, dass er nur noch die Tage zählt, bis er endlich »aussteigen« kann. Und das ist kein Wunder: Das hehre Bild von der Fach- und Führungskraft, die bei bester Laune ackert wie am Fließband und stets für das Unternehmen da ist, haben wir alle über die Jahre aufgebaut und fleißig gepflegt. Die Erkenntnis, dass es mit weniger Arbeit vielleicht auch geht, dass ein Manager auch mal um vier gehen, von zu Hause aus arbeiten oder gar seine Arbeitszeit reduzieren darf, ohne dass gleich der ganze Betrieb zusammenbricht, lässt sich da nicht von heute auf morgen durchsetzen.
Genau das ist eine oft unterschätzte Konsequenz von Downshiftern, von Menschen, die ihr Leben verändern oder neu ordnen möchten: Wer |49| sich – ganz oder teilweise – von seinem Beruf löst, verliert zunächst fast zwangsläufig einen gewissen Teil seiner Identität, seines bisherigen (auf die berufliche Sphäre beschränkten) Lebenssinns. Hinzu kommt, dass er oft einem erheblichen sozialen Druck ausgesetzt ist. Erfolgreiche Downshifter kompensieren diesen Druck und ersetzen den anfänglichen, mehr oder minder großen Verlust der beruflichen Identität durch andere Tätigkeiten und die Entfaltung bisher vernachlässigter Fähigkeiten – das ist schließlich der Sinn, der hinter dem ganzen Vorhaben steht. Nicht in jedem Falle
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