Wenn alle anderen schlafen
aus meiner
Collegezeit fiel mir wieder ein.
In dem heruntergekommenen alten
Haus an der Durant Avenue in Berkeley, das ich mit einer ständig fluktuierenden
Gruppe Studenten geteilt hatte, wohnte auch einmal eine gewisse Merrily Martin.
Als diese unbeschwerte, etwas kindliche, blonde junge Frau einzog, schien sie
der lebende Beweis für den berühmte Satz: Nomen est omen. Doch binnen sechs
Monaten veränderte sie sich. Sie wurde launisch, reizbar, depressiv und in sich
gekehrt. Hank Zahn, der damals auch dort wohnte, tippte auf Drogen und schlug
vor, ihr Zimmer zu durchsuchen. Ich lehnte das, unter Berufung auf die
Unverletzlichkeit der Privatsphäre, vehement ab, und schließlich kapitulierte
Hank. Ein paar Wochen darauf fanden wir Merrily tot im Bett — eine Überdosis
Heroin. In dem Abschiedsbrief auf ihrem Nachttisch stand: »Warum hat mir keiner
geholfen?«
Ich bin immer noch eine
glühende Verfechterin der Unverletzlichkeit der Privatsphäre, aber ich werde
sie nie wieder über das Wohl eines Menschen stellen, mit dem ich befreundet
bin.
»Okay«, sagte ich zu Neal,
»vielleicht ist das eine Möglichkeit, schnell herauszufinden, was Sache ist.«
»Danke.« Er zog ein
Schlüsseletui heraus und löste einen Schlüssel davon. »Da. Ich habe noch einen
Ersatzschlüssel im Wagen.«
Ich steckte den Schlüssel ein.
»Kommt ihr beide auch zu Raes und Rickys Orgie am Valentinstag?«
Er nickte.
»Wenn ich in eurer Wohnung
nichts finde, kann ich ihm ja morgen abend mal hinterherfahren und alles
weitere dann entscheiden.« Neal boxte mich leicht auf den Oberarm. »Danke,
Kumpel. Jetzt ist mir schon wohler.«
»Versuch dir keine Sorgen zu
machen. Es wird schon wieder.«
Er nahm meine Hand und hielt
sie ein Weilchen fest, während wir zusahen, wie die Nacht hereinbrach.
Donnerstag
abend
Kurz vor elf kam ich noch mal
ins Piergebäude zurück, um mich mit einem potentiellen Klienten zu treffen.
So gegen halb sechs hatte mir
Rae — die Überstunden machte, um ihren Bericht über den Warenschwund in einer
exklusiven Boutique an der Filmore Street fertigzustellen — über die
Sprechanlage mitgeteilt: »Da ist ein Typ auf der eins, der sagt, er ist sich
jetzt sicher, daß sein Partner Gelder unterschlägt, und er will auf dein
Angebot zurückkommen, ihm gerichtstaugliche Beweise zu beschaffen.«
»Wie heißt er?«
»Clive Benjamin.«
Der Name sagte mir nichts, aber
ich hatte wohl irgendwann mal mit ihm gesprochen. »Mach einen Termin für
morgen, okay?«
»Er will dich heute noch
sprechen. Er ist anscheinend Mitbesitzer einer Kunstgalerie, und sie haben
gerade eine Ausstellung, deshalb ist er heute abend erst mal dort angenagelt.
Aber er sagt, er kann so um elf hier sein.«
Eine ungewöhnliche Zeit, um
sich mit einem Klienten zu besprechen, aber so etwas kam vor. »Okay, sag ihm,
ich erwarte ihn.«
Um kurz nach elf trat Clive
Benjamin durch meine Bürotür, ein großer Mann im Anzug mit einer
schulterlangen, blonden Künstlermähne und kantigen Zügen, die Arme freudig
ausgebreitet. Als er mich sah, blieb er abrupt stehen und ließ die Arme sinken.
Sein warmes Lächeln wich einem verwirrten Ausdruck.
Er sagte: »Ich wollte Ms.
McCone persönlich sprechen.«
»Ich bin Sharon McCone.«
»Nein, sind Sie nicht.«
»Bitte?«
»Was geht hier vor?«
»Mr. Benjamin, bitte nehmen Sie
doch Platz. Es handelt sich wohl um einen Irrtum. Er wird sich aufklären.«
Er blieb stehen. »Was heißt
hier Irrtum? Wenn Sharon mich nicht wiedersehen oder nicht für mich arbeiten
will, warum hat sie’s mir dann nicht durch ihre Sekretärin sagen lassen?«
»Sie kennen... Ms. McCone?«
»Ich habe sie letzten Freitag
bei einer Vernissage in meiner Galerie kennengelernt. Sie hat mir ihre Karte
gegeben. Hier.« Er fischte eine Karte aus der Innentasche seines Jacketts und
hielt sie mir hin.
Es war ein Nachdruck meiner
Geschäftskarte, aber auf billigerem Karton. Ich hatte diesen Mann noch nie im
Leben gesehen, geschweige denn einen Fuß in seine Galerie gesetzt.
O Gott...
Ich sagte: »Mr. Benjamin,
setzen Sie sich.«
Diesmal kam er meiner
Aufforderung nach. Ich ging um meinen Schreibtisch herum und setzte mich ihm
gegenüber. Die Situation erinnerte mich an etwas — und das gefiel mir gar
nicht. Ich würde erst mal gute Miene machen, bis ich die Fakten aus ihm
herausgeholt hatte.
»Sie sagen, Sie haben Ms.
McCone letzten Freitag in Ihrer Galerie getroffen?«
»Sie geben also zu, daß sie Sie
nur
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