Wenn das der Führer wüßte
Rokokofarben, mit geschwungenen Fenstern auf der einen und spärlichen hohen Türen auf der andern Seite. Das Gefühl, verfolgt zu werden, war wie weggeweht, er atmete wieder frei.
Höllriegl war nie in der „Residenz“ gewesen, wie das während des Krieges arg beschädigte Schlößchen im Volksmund hieß. Der Besitz eines hierorts ansässig gewesenen, schon unter Willem dem Zwoten erloschenen Feudalgeschlechts hatte im Lauf der Jahrzehnte mehrmals die Hand gewechselt. Nach dem ersten Weltkrieg – so hatte Kummernuß erzählt – war das Schloß einem rheinischen Schlotbaron zugefallen, der immerhin das verrottete Residenztheaterchen instand setzen und sogar bespielen ließ. Als der Führer die Macht übernahm, war es auch hier mit dem Systemspuk zu Ende. Die „Residenz“ wurde in rascher Folge in ein Schulungshaus für Säuglingsschwestern, in ein Sanatorium für Weltkriegsversehrte, um 1940 in ein Genesendenheim für die Totenkopfverbände und später in eine Erzeugungsstätte im Rahmen irgendeiner Ringfertigung (Kummernuß meinte: für das Ariel-Programm) umgewandelt. Während der alliierten Terrorangriffe auf das Reich fiel das bauliche Juwel teilweise den Sprengbomben zum Opfer. Der Rüstungsbetrieb verschwand in den Stollen, und die Schloßruine war wieder vogelfrei. Nach dem Sieg erwarb ein Blutordensträger, der oberste Abwehrbeamte von Bad Frankenhausen (dies der frühere Name von Heydrich), die Reste des Schlößchens um einen Pappenstiel, starb aber während der Wiederaufbauarbeiten. Die „Residenz“ kam neuerlich in den Besitz der Partei, die sie durch Zubauten mit Kaserne und „Parlament“ verbinden ließ.
Ein Ereignis, flüchtig und schleierhaft wie alle weiteren dieses schwangeren Herbsttages, sollte doch ein eigentümliches Gewicht behalten. Höllriegl gewahrte am fernen Ende des Flurs eine Brüstung, die sichtlich hier oben das Stiegenhaus abschloß. Dort konnte er rasch ins Freie gelangen – den Lehrkurs über die Tschandalengebiete durfte man nicht versäumen, es wurde kontrolliert. Er beschleunigte seine Schritte. An einer der seltenen Türen vorbeieilend, vernahm er dahinter ein gleichförmiges Gemurmel oder Getuschel, das sich wie eine im Chor gesprochene Litanei anhörte. Er hielt an – zwanghaft – und öffnete die Pforte, die sich kreischend in den Angeln drehte.
Er befand sich auf der Empore (oder dem Chorgestühl) einer hohen, schmalen, von Schwaden erfüllten Kirche; anscheinend war es die Schloßkapelle. An der Stirnwand der leeren Apsis hing ein mächtiges Christenkreuz (der Crucifixus fehlte), über das ein ebenso großes schwarzes Hakenkreuz genagelt war. Es gab weder Bilder noch sonstigen rituellen Schmuck. Auf der Empore und unten im Schiff drängten sich Menschen. Die Andächtigen, zumeist alte Weiblein in Trauerkleidern, waren mit verzücktem Gesichtsausdruck einem auf den Altarstufen stehenden rotbäckigen Schwarzbart zugewandt, auf dessen Schultern links und rechts je ein Vogel saß, unbeweglich, als wäre er ausgestopft, Dohle, Krähe oder Rabe. Der Mann, vielleicht Prediger, vielleicht Versammlungsredner, dessen stattlichen Leib ein dunkler Mantel zur Gänze einhüllte, schien einäugig zu sein, über das fehlende Auge trug er eine schmale schwarze Binde so schlampig, daß man die rote Augenhöhle deutlich sehen konnte. Einen Schlapphut hatte er tief in die Stirn gezogen. Höllriegl konnte ihn von seinem Platz aus nur schlecht sehen, denn die in ihren Bänken Knieenden behinderten die Sicht, auch stieg aus der Tiefe ständig dünnes Rauchgewölk auf, das, obgleich rasch abziehend, den Raum verdunkelte. Es roch nach verbranntem Fleisch.
Die Gemeinde schwankte rhythmisch, in einer Art feierlichen Schunkelns, auf den Sitzen hin und her, wobei sie den monotonen Singsang fortsetzte. „Der Füh – rer! Der Füh – rer!“ verstand Höllriegl. Es klang langgezogen, inbrünstig, tränenerstickt. „Er sitzet zur rechten Hand Odins, des allmächtigen Vaters“, sagte in beschwörendem Ton der Skalde (so etwas schien der Vorbeter zu sein), und sein Auge funkelte trunken. „Der Füh – rer! Der Füh – rer!“ responsierte gehorsam der Chor. Höllriegl sah glotzende Augen auf sich gerichtet, sah speichelnde Münder in gelben, faltigen Gesichtern – der Störenfried war aufgefallen. Weiche Hände tasteten nach ihm, die Weiber rückten zusammen, um Platz zu machen. Ihre verwelkten Körper rochen süßlich, manche hatten kleine Kränze in den Händen. Irgendwo draußen
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