Wenn das der Führer wüßte
dachte an die meuternde Luftwaffe – möglicherweise flog sie ihre ersten massiven Angriffe gegen die in Stolberg eingesetzte Wehrmacht und SS . Trotz allem war ihm, als sei er ein unbeteiligter Zuschauer und wohne einem Manöver bei.
Er entdeckte einen Bahnübergang, aber kaum war der Schienenstrang passiert – er sah, daß die Geleise aufgerissen waren –, spritzten ihm Schüsse entgegen. Er stieg aufs Gas. Dort drüben lief, weiß und anscheinend menschenleer, die Straße nach Berga und Rottleberode – seine Straße. Er steuerte drauflos, wobei er mehrmals das Sanitätssignal hupte. Und erreichte sie in einem richtigen Kugelregen. Wieder Glück gehabt – nicht ein Schuß hatte getroffen. Mit aufgeblendeten Scheinwerfern, jetzt war sowieso alles egal, raste er dahin. Jeder gewonnene Kilometer war kostbar!
Zwischen Berga und Rottleberode lag das Gut der Eyckes. Wie mochte es dort aussehen? Der Appetit auf Ulla war verflogen – ein Unding, auch wenn Ulla noch da wäre. Irrsinn! Wie hatte er das nur glauben können! Sein Hirn war nicht mehr fähig, normal zu denken. Außerdem – Ulla mußte längst über alle Berge sein. Mit den Kindern. Nie mehr würde er sie wiedersehen, und das war gut so. Es war gut so.
Die Straße, eine Allee, verlor sich in der flammenden Ferne. Schnurgerade. Kein Mensch zu sehen, alles verbarg die Nacht. Im Lichtkegel tanzten die Bäume wie bleiche Skelette auf ihn zu. Manchmal sah er Autowracks an der Fahrbahn liegen. Atomflüchtlinge? Das Kyffhäusergebiet war abgeriegelt gewesen. Es mußten also Flüchtlinge aus der Gegend sein. Wieder kam ihm zum Bewußtsein, wie sinnlos Flucht war.
Plötzlich mußte er an jenen Sonnabend denken, vor acht Tagen – eine undenkliche Zeit! Die gleiche Straße. Ein falscher Spätsommertag. Der Lakai mit den weißen Haaren. Die Schlamperei in Ullas Zimmer. Der fleischfarbene Schlüpfer. Die Reitstiefel. Ullas Od. Das Bidet. Das Führerbild. Das Andreaskreuz. Die gefährliche Strahlung ihres Fleisches. Dann sie selbst, Ulrike Mlakar. Die feuchten Flecken unter den Achseln. Der Geruch der Reithose. Die Züchtigung. Das Schandmal.
„Unsinn, Unsinn“, sagte er laut und meinte damit seine jetzige Fahrt zu den Eyckes. Sie war gefährlich und in jeder Hinsicht dumm. Das einzig Vernünftige: auf der Stelle umkehren und versuchen, bis Heydrich durchzupreschen.
Mit hoher Geschwindigkeit jagte der Wagen auf ein Hindernis zu. Höllriegl bremste so scharf, daß er mit voller Wucht gegen das Lenkrad gedrückt wurde und im Fond alles durcheinanderkollerte. Instinktiv löschte er die Lichter. Im fahlen Feuerschein türmten sich die Überreste irgendwelcher Fahrzeuge auf, ein Berg verbogenen, zerrissenen Metalls. Trümmer lagen herum.
Er sprang aus dem Wagen und pirschte sich im Graben an die Sperre heran. Zersplitterte Bäume und statt der Fahrbahn ein gähnendes Loch. Tote, die Arme weit ausgebreitet, lagen am Rande des Trichters oder waren in seine Tiefe gerutscht, von einem Ast hing der Fetzen eines Beins. Wehrmachtsoldaten, junge Kerle. Milchgesichter unter zu großen Stahlhelmen. Der schwache Strahl der Taschenlampe huschte über die Leiber, die wie Engerlinge in schwarzer Ackererde aussahen. Alles Wahnwitz! Volksgenossen gegen Volksgenossen!
Höllriegl erkletterte den Trümmerhaufen, kratzte sich am geborstenen Metall die Hände auf, manchmal tasteten sie über Weiches, glitten über erstarrte Gliedmaßen. Angestrengt spähte er nach Berga hinüber.
Der verdammte Tränenfluß! Auch das unheimliche Schwindelgefühl und Frösteln – seit Tagen litt er darunter. Natürlich, heute hatte er kaum was im Magen, er war übernächtig, dann die Kackerilla. Auf einmal wurde ihm richtig übel, am liebsten hätte er gekotzt. Er spie das bißchen Magensäure aus und begann tief Atem zu holen. Doch die Luft roch nach Schmieröl, Benzin und versengtem Fleisch und Tuch.
Er sah, daß die Straße auf Sichtweite mit zerstörten Panzerwagen bedeckt war. Anscheinend hatte es einen Truppentransport erwischt, vielleicht war es ein Teil jenes großen Mot-Verbandes, den er bei Heydrich auf der Straße nach Kelbra gesehen hatte. Das hier war der Endpunkt der Fahrt, er konnte nur zu Fuß weiter.
Also zurück nach Heydrich! Aber wozu? Was hatte er dort noch verloren? Sein Daheim, die heile Welt, Ingrid, sein Pianino? Er lachte laut und wunderte sich, daß er lachte. Vor ihm brannte Berga, hinter ihm Kelbra. Wer weiß, wie es in Heydrich aussah!
Untertauchen, in der Nacht
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