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Wenn das der Führer wüßte

Wenn das der Führer wüßte

Titel: Wenn das der Führer wüßte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Otto Basil
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und daß die Erinnerung ihn peinigte. An die Kinder dachte sie zuweilen – es war wie Versteckenspielen, Vorüberhuschen von Phantomen, Sichhaschen –, jedoch ganz ohne Sehnsucht oder Leid. Manfred und Erda waren für sie fremde Wesen. (Die vorbildliche Mutter, als welche sie stets hingestellt wurde, existierte nur in der Phantasie der Hausfrauenzeitungen – Sigga war nichts als eine schreckliche Geliebte, eine verzehrende Bettgenossin.) Alles, was ihre Ehe betraf, schien mit Eyckes Tod aus der Welt geschafft.
    Sie war oder wurde ein anderer Mensch, wahrscheinlich arbeitete die Krankheit in ihr und veränderte sie. Und diese andere Ulla – oh, wie abgestorben klang schon der alte Name! – gehörte ihm mit Haut und Haar, mit ihrem schönen Haar und ihrer schönen Haut. (Er zupfte an ihren Schamhaaren.) Tief und inwendig liebte er sie, er liebte sogar noch ihre Ausscheidungen.
    Was fesselte sie aneinander? fragte er sich. War es jener grauenvolle Marsch durch die Atomwüste, war es eine chemische Umwandlung, die seither in ihrer beider Adern vor sich ging? Zum erstenmal dämmerte ihm, daß „Blut“ nicht ein Parteischlagwort war, überhaupt nichts Bildliches – es war machtvolle Wirklichkeit, etwas, das über Leben und Tod entschied. Nicht einmal als Lazarettgehilfe in Griechenland und auf Kreta, wo es oft wie in einem Schlachthof zugegangen war, hatte er so stark und süß die Wirklichkeit des Blutes empfunden. Blut, schönes, warmes, kreisendes Blut – ja, das war es, was sein Leben mit ihrem verband!
    Im dämmerigen Blaulicht des Kabinenschlauchs sahen die Reisenden mit ihren kreideweißen, vergilbten Gesichtern – es waren Oblatengesichter – wie Tote aus. Manche schienen zu schlafen, einige lutschten stumpfsinnig an ihren Bonbons. Niemand wußte, wann der Flug ein Ende haben werde oder wohin er führte. Die Triebwerke stöhnten und dröhnten.
    Jugurtha und Sigga sprachen kein Wort, Gesprochenes hätte ihre Sinnlichkeit zerstört. Diese Sinnlichkeit war Finsternis, Vergessen, Delirium. Heiltum! Es war so dunkel, daß sie sich nicht in die Augen sehen konnten. Nur ganz Tastsinn waren sie. Für Jugurtha versank die Welt, er dachte nicht an sein und Siggas Krankenschicksal, an die Ungewißheit ihrer Lage, an nichts mehr. Er war trunken vor Freude über seine schöne Beute. Als er sich daran erinnerte, wie enttäuschend die ersten Male mit ihr gewesen waren, daß er sie für kaum mehr als einen Geschlechtsabort gehalten hatte, überwältigte ihn die Scham – und er umarmte sie ungestüm. Nichts mehr verstand er davon, es mußte gutgemacht werden. Eine Wonne, sie zu haben, so wonnig wie das, was sie eben mit ihren Händen tat.
    Nie mehr würde er sich von ihr trennen. (Unvermittelt sagte er es ihr ins Ohr: „Auf Gedeih und Verderb, Sigga!“) Sie würden, wo immer es sei, miteinander hausen, er wäre ein Schuft, wenn er nicht für sie arbeitete. Aber was? Er hörte sie unterdrückt aufstöhnen und spürte das Zucken ihrer Glieder, sie konnte heute nicht genug haben, erfand selbst immer neue Finessen, ihre Hände bargen Überraschungen. Wie schön, wenn sie ein Kind hätten – ein Kind! Ein gemeinsames Heim, und wäre es in einer Eis wüste am Rande der Welt. Alles Unsinn! Sigga war zu alt – sie war weit über vierzig, vielleicht fünfzig –, hatte Fehlgeburten gehabt, war auch nervlich belastet. Und die Strahlenverseuchung! Die Strahlenverseuchung war der Anfang und das Ende. Sie mußten gesund werden, unter allen Umständen gesund! Alles weitere würde sich finden.
    Bald erschlafften sie. Mit der Sattheit kehrte die schmerzhafte Müdigkeit zurück, seit Tagen lag sie ihnen in den Knochen. Ein Zerschlagensein, wie es dem Ausbruch einer schweren Grippe vorangeht. Sigga drehte sich von ihm weg, sein Gesicht versank in ihrer Mähne. Körper an Körper schliefen sie ein.
     
    Wie lange sie so gelegen hatten, war in der Zeitlosigkeit, die hier alles umgab, ohne Belang. Sie erwachten fast gleichzeitig, in der Kabine war es dämmerhell. Mit einem Ruck setzten sie sich auf und schauten einander traumverloren an. Die Sonne! Es war Tag! Sie warfen die Decke von sich und preßten ihre Gesichter an das Bullauge über ihnen. Draußen herrschte eine fade, gleichmäßig milchige Helligkeit, Einzelheiten waren nicht zu erkennen. Voller Freude küßte er sie auf beide Wangen. Die Maschine hatte zweifellos Südkurs, die Polarnacht lag hinter ihnen.
    Kein Anlaß zur Freude, wie sie sogleich erfahren sollten. Die Maschine

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