Wenn das Dunkle erwacht (German Edition)
für ihn war, auf dem Dach sitzen und ging zurück zum Hauptgebäude. Im Haus war es kühl und still, der Geruch von Holz und etwas Essbarem, das gerade in der Küche gebrutzelt wurde, beruhigte seine aufgewühlte Seele. Auf dem Weg nach oben zu seinem Zimmer musste er ständig an Kierlands Worte denken.
Dann hockte er sich auf das Bett, fuhr sich mit den Händen übers Gesicht und spürte einen Schmerz in der Brust, als ob die harte Schale, die sein Herz umschloss, schließlich doch noch Risse bekam. Beim Luftholen spürte er ein Stück Freiheit und staunte selbst über die zarte Hoffnung, die sich in seinen Adern breitmachte.
Zum ersten Mal seit fünf Jahren begannen die Ketten, die ihn an seine Vergangenheit fesselten, zu zerbrechen.
Er zog den Schnappschuss von Saige aus der Hosentasche. Die Ränder waren schon ganz verblasst, so oft hatte er das Foto in den Händen gehalten und angestarrt. Aber während er mit dem Daumen zart über ihr Gesicht strich, wurde ihm klar, dass er sich nicht länger mit einem Bild begnügen wollte.
Nein, er wollte die ganze Frau, aus Fleisch und Blut.
Er konnte nur hoffen, dass es nicht schon zu spät war.
Nach einer langen heißen Dusche, die den Schmerz in ihren überanstrengten Muskeln kaum lindern konnte, starrte Saige in den beschlagenen Spiegel und trocknete ihr Haar. Sie hatte sich ihr Handtuch um den Körper gewickelt. So lange Zeit war sie ganz auf sich gestellt um die Welt gereist, da war es schon seltsam, dass plötzlich eine Menge Leute an ihrer Sicherheit interessiert waren. Molly hatte sich wirklich als Geschenk des Himmels erwiesen, eine Frau, mit der man wunderbar reden konnte und die ihr half, mit allem fertigzuwerden. Ians Verlobte war wie eine Handvoll Sonnenschein, die einem in jeder Situation Licht und Wärme schenkte, und Saige verstand genau, was ihren Bruder zu dieser schönen und lebhaften Frau hinzog. Die Geschichte, wie Ian und Molly sich zum ersten Mal begegnet waren, hatte Saige besonders gut gefallen. Erstaunlicherweise war es Elainas Geist gewesen, der die beiden zusammengeführt hatte. Wie Saige besaß auch Molly eine ungewöhnliche Fähigkeit, im Schlaf konnte sie tatsächlich mit den Geistern der Toten kommunizieren. Und der Geist ihrer Mutter hatte sie angefleht, nach Colorado zu reisen und Ian vor dem Casus zu warnen, der ihm auf den Fersen war. Der Rest war inzwischen Geschichte. Sie hatten sich Hals über Kopf ineinander verliebt, und Ian schien auf eine Art in sich zu ruhen, die sie nie für möglich gehalten hätte.
Wenn sie sich nicht gerade mit Molly unterhielt oder auf dem Übungsplatz trainierte, diskutierte sie mit ihren Brüdern und den Watchmen über die Dark Marker und über die Karten, die sie in Italien gefunden hatte. Saige hatte ihre Fragen nach bestem Gewissen beantwortet, aber trotzdem gab es da noch sehr viele Geheimnisse. Sie hatte keine Ahnung, wie oder von wem die Kreuze über die ganze Welt verteilt worden waren oder wer die Karten erstellt hatte. Allerdings war sie der Überzeugung, dass die Karten erst wenige Hundert Jahre alt waren, was bedeutete, dass sie Jahrhunderte nach dem Verlust der alten Archive entstanden sein mussten.
Kierland und die anderen waren sehr interessiert an den Notizen ihrer jahrelangen Forschungen, also hatte Saige ihre Unterlagen, die in einem Forschungsinstitut in Virginia aufbewahrt wurden, nach Ravenswing schicken lassen. Falls überhaupt irgendwer die Geduld und Entschlossenheit aufbringen würde, sich durch die Berge von Papier zu wühlen, die über die Jahre angefallen waren, dann diese Männer hier. Je mehr Saige über die Watchmen in Erfahrung brachte, desto mehr faszinierten sie sie. Einerseits war jeder von ihnen ein Unikat, und doch waren sie einander in vieler Hinsicht auch sehr ähnlich. Jeder hatte seine speziellen Stärken wie auch bestimmte Schwächen, aber sie alle fühlten sich verpflichtet, den Merricks dabei zu helfen, die Casus ein weiteres Mal zu besiegen.
Außerdem lernte Saige ihre Brüder langsam wieder kennen, obwohl sie so etwas nie für möglich gehalten hätte. Ein sehr merkwürdiges, aber gleichzeitig auch wunderbares Gefühl. Trotzdem hatte es natürlich auch schon wieder Augenblicke gegeben, in denen sie Riley am liebsten den Hals umgedreht hätte – besonders als sie erfahren musste, dass Riley den ersten Dark Marker zusammen mit den übrigen Hinterlassenschaften ihrer Mutter in einem verfluchten Lagerschuppen aufbewahrt hatte. Als Molly ihr das erzählte,
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