Wenn das Glück dich erwählt
Gedanken rasten von all den
Dingen, die passiert sein könnten - sie neigte nicht dazu, zu übertreiben, aber Kinderkrankheiten waren nichts, was man auf die leichte Schulter nehmen durfte. Wie viele Kinder hatte sie schon sterben sehen durch Scharlachfieber, Diphtherie und Keuchhusten? Sie zwang sich zu einem Lächeln, das aber so zerbrechlich war wie eine dünne Tonmaske.
»Du hast ein bisschen Temperatur«, sagte sie ruhig, als wäre das nichts Ungewöhnliches. Abigail war stets gesund und ungemein vital gewesen. Evangeline betrachtete das nicht nur als Abigails, sondern auch als ihre eigene beste Eigenschaft. »Soll ich dir ein bisschen Brühe kochen?«
Abigail schüttelte den Kopf. »Das Schlucken tut mir weh.«
Evangeline setzte sich auf die Bettkante und widerstand dem zwingenden Bedürfnis, ihre Tochter auf die Arme zu nehmen und aus dem Haus zu stürzen, um einen Arzt für Abigail zu suchen. Aber sie wusste, dass das sinnlos war.
Nicht sie, lieber Gott, flehte sie stumm. Nicht meine kleine Abigail. »Ich kann mir vorstellen, dass dir das Schlucken wehtut«, sagte sie, äußerlich so ruhig wie möglich, obwohl sie innerlich der Panik nahe war. »Trotzdem musst du etwas essen. Wie wäre es mit etwas heißem Honigwasser und« - hier senkte sie verschwörerisch die Stimme - »ein ganz klein wenig von Mr. Keatings Whiskey?«
Abigails Augen wurden groß. Selbst in ihrer Not war sie verblüfft über das Angebot. »Du würdest mir Whiskey geben?«, staunte sie.
Evangeline bückte sich, um die Stirn ihrer Tochter zu küssen, und spürte wieder die alarmierende Hitze ihrer Haut. »Es bleibt unser Geheimnis«, wisperte sie und kämpfte mit den Tränen. Dies war noch viel, viel beängstigender, als die Begegnung mit dem Wolf oder anderen Gefahren der Wildnis jemals hätte sein können, aber sie wagte nicht, ihre Furcht zu zeigen. »Man kann Whiskey unter ganz besonderen Umständen auch als Medizin benutzen. Er wird dir helfen, einzuschlafen, und den Schmerz in deiner Brust lindern.«
Abigail blieb misstrauisch. »Glaubst du, dass er mich böse machen wird, Mama?«
Das Kind hatte Motts Trinkerei also bemerkt. Obwohl er schon vor Charles' Tod zu viel getrunken hatte, war es danach noch sehr viel schlimmer mit ihm geworden. Sie hätte nicht überrascht sein dürfen, da sie schließlich wusste, dass Abigail nicht viel entging. »Nein, Liebling, ich verspreche dir, dass du niemals so wie Mott sein wirst. Nicht einmal, wenn du Whiskey trinkst.«
Abigail schien zu überlegen und nickte dann zustimmend. Evangeline hoffte und betete, dass die Kleine nicht erraten hatte, wie bedenklich ihre Erkrankung war, und ihren mütterlichen Versuch, eine tapfere Fassade aufzusetzen, nicht durchschaute.
Evangelines Hände zitterten, als sie Honig und ein paar Tropfen Whiskey in das heiße Wasser aus dem Reservoir gab. Dann nahm sie sich noch einen Moment Zeit, um sich zu sammeln, dort am Herd, bevor sie erneut ein Lächeln aufsetzte, das diesmal jedoch nicht mehr ganz so zerbrechlich wie das letzte war, und zu Abigail zurückkehrte.
Hortense lag schnurrend auf dem Bauch der Kleinen. Evangeline scheuchte die Katze behutsam fort und setzte sich wieder auf die Bettkante. Das Getränk war sehr heiß, sodass sie es für ein paar Minuten zum Abkühlen auf den kleinen Nachttisch stellte.
»Soll ich dir eine Geschichte vorlesen?«, fragte sie. Es gab nicht viel, was sie für ihre Tochter tun konnte, falls dieses Fieber sich als ernst herausstellen sollte, aber sie würde wahrscheinlich den Verstand verlieren, wenn sie nicht wenigstens etwas tat.
Abigail schaute sie nur lustlos an; das Sprechen war ihr offenbar zu anstrengend.
Scully, flehte Evangeline im Stillen. Bitte, bitte, komm zurück!
Vorsichtig richtete sie Abigail auf und stützte sie auf mehrere Kissen, als sie schwer atmete, und flößte ihr löffelweise die Mixtur aus Honig und Whiskey ein.
Irgendwann schlief Abigail ein, und Evangeline ging zur anderen Seite des Hauses, wo sie sich ans Fenster setzte, um hinauszustarren, und sich mit aller Macht dagegen wehrte, ihren Tränen freien Lauf zu lassen. Denn wenn sie weinte, hätte Abigail Bescheid gewusst. Irgendwie hätte sie es erraten und Angst bekommen. Nein, Weinen war ein Luxus, den Evangeline sich nicht erlauben konnte.
Sie kehrte zum Bett zurück, als sie ihre Emotionen wieder unter Kontrolle hatte, und streckte sich neben Abigail aus, nachdem sie voll angekleidet unter die Decke gekrochen war. Sie nahm das Kind in
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