Wenn die Nacht dich kuesst...
schimpfte, hatte er doch stets sein eigenes warmes Bett verlassen, um das eingebildete Ungeheuer unter Julians zu erschlagen.
»Gütiger Himmel, Mann!«, rief Julian und zerrte an dem Knoten in dem Gürtel seines schwarzen Morgenmantels. »Was soll der Krach? Du bist laut genug, um Tote zu wecken.«
Adrian warf ihm einen finsteren Blick zu, ehe er über den marmorgefliesten Boden zur Anrichte im Salon ging und sich eine großzügige Portion Brandy einschenkte. Er betrachtete stirnrunzelnd die fast leere Karaffe, während er sie zurückstellte. Er hätte schwören können, dass der Butler sie erst gestern aufgefüllt hatte.
Sein Bruder sank auf eine der unteren Stufen, gähnte und rieb sich die Augen. Sie weiteten sich, als er die Regenpfütze bemerkte, die sich um den Ständer bildete. Ungläubig betrachtete er das Fenster. Unverkennbar war ein schmaler Streifen Tageslicht durch den Spalt in den schweren Vorhängen zu erkennen. »Bist du etwa draußen gewesen ?«
Adrian drehte sich um und lehnte sich gegen die Anrichte. Er rieb sich seinen Nacken und versuchte nicht daran zu denken, wie viele Stunden vergangen waren, seit er geschlafen hatte. »Ja.«
»Und was hat von dir Besitz ergriffen, dass du das Haus zu einer derart unchristlichen Stunde verlassen hast? Hattest du eine schlechte Nacht? War deine Jagd erfolglos?«
»Oh, nein, ganz im Gegenteil. Meine Jagd war sogar sehr erfolgreich.« Adrian kippte den Brandy hinunter und musste daran denken, wie herrlich sich Caroline in seinen Armen angefühlt hatte. »Ich habe mir nur etwas eingefangen, was ich nicht erwartet hatte.«
Julian musterte ihn spöttisch. »In Anbetracht deiner Pflichtversessenheit bin ich sicher, dass es auf keinen Fall die Franzosenkrankheit ist, oder? Obwohl es deine Laune sicher heben würde, wenn du mal in eines der Freudenhäuser in den düsteren Gassen gehen würdest, die du des Nachts heimsuchst.«
Aus irgendeinem Grund wirkte die Vorstellung, Erleichterung in den Händen einer vollbusigen Dirne zu finden, kein bisschen verlockend auf Adrian. Nicht, solange Carolines unwiderstehlich süßer Mund noch so frisch in seiner Erinnerung war.
Den Rest des Brandys trank er in einem Zug, aber noch nicht einmal dessen Hitze konnte ihren Geschmack von seinen Lippen brennen. »Das Einzige, was im Augenblick meine Stimmung aufhellen könnte, ist der schnelle Rückzug einer gewissen Miss Cabot in ihr Heim in Surrey.«
»Ich entnehme deiner finsteren Miene, dass Miss Cabots Abreise in eine ländlichere Umgebung nicht unmittelbar bevorsteht.«
»Ganz im Gegenteil. Es scheint, dass sie und ihre reizenden Schwestern uns später in dieser Woche nach Wiltshire begleiten werden.«
Julian setzte sich auf und blinzelte. »Diese Woche? Bist du sicher, dass es nicht zu früh ist? Ich dachte, wir würden nicht vor nächster Woche fahren. Was ist mit Duvalier? Wie kannst du sicher sein, dass er uns folgt?«
»Ich denke, wir können sagen, dass wir erfolgreich sein Interesse geweckt haben.« Adrian schaute seinem Bruder in die Augen, weigerte sich, vor dem Hieb zurückzuweichen, den er ihm versetzen würde. »Er war da. Heute Nacht. In Vauxhall.«
Julian wurde so reglos, dass sich seine Lippen kaum bewegten, als er flüsterte: »Hast du ihn gesehen?«
Sich an die schier überwältigende Furcht erinnernd, die er empfunden hatte, als er Duvalier gefolgt war, der wiederum die völlig ahnungslose Caroline verfolgte, schüttelte Adrian den Kopf. »Das musste ich nicht. Ich konnte ihn spüren. Ich konnte ihn wahrnehmen. Aber in der Minute, in der ich dem Bastard zu nahe kam, verschmolz er mit den Schatten.«
Adrian hatte erst später begriffen, dass Duvaliers Verschwinden ein Segen war. Wenn der andere Zeuge von Adrians und Carolines Kuss geworden wäre, wären all ihre Pläne in Gefahr geraten.
»Mir scheint, uns bleibt nichts anderes übrig, als London so rasch wie möglich zu verlassen«, erklärte Adrian grimmig. »Duvalier war nicht der Einzige heute Nacht in Vauxhall. Larkin wird hartnäckiger, aufdringlicher. Wenn ich ihn nicht von unserer Fährte abbringen kann, landen wir beide noch vor dem Ball in Newgate. Und ich muss dir sicher nicht erst sagen, was für eine Katastrophe das wäre.« Er fuhr sich müde mit der Hand übers Kinn. »Ich muss ohnehin geschäftlich nach Wiltshire. Ich habe heute Morgen eine Nachricht von Wilbury erhalten. Jemand — oder etwas — terrorisiert die Dorfbewohner und reißt Vieh in Nettlesham«, erklärte er, wobei er
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