Wenn die Nacht dich kuesst...
schließlich anhielt. »Denkst du, wir sind angekommen?«
Dankbar für die Ablenkung setzte Caroline den Koffer vorsichtig auf der Bank neben sich ab. »Ich hoffe es wenigstens. Wenn wir noch weiter reisen, landen wir am Ende im Fluss Avon.«
Viviennes Frage wurde beantwortet, als ein livrierter Lakai den Kutschenschlag öffnete. »Willkommen im sonnigen Wiltshire!«
Niemand konnte an seinem Hang zur Ironie zweifeln. Regenströme ergossen sich unbeirrt weiter aus dem Himmel, wurden vom Wind in Böen gepeitscht, ihr unregelmäßiges Prasseln begleitet von fernem Donnergrollen.
Als zögerten sie, das gemütliche Innere der Kutsche zu verlassen, benötigten die Schwestern unangemessen viel Zeit, ihre Handschuhe, Bücher und Sticksachen zu suchen und die Kapuzen ihrer Umhänge gerade zu ziehen. Als wirklich nichts mehr einzupacken war, stieg Caroline aus, den Koffer unter den Arm geklemmt.
Ein zweiter Lakai trat vor, um ihn ihr abzunehmen. »Nein, danke! Ich schaffe das schon!«, schrie sie über das Heulen des Windes hinweg. Wenigstens hoffte sie, es war der Wind.
Portia und Vivienne verließen hinter ihr die Kutsche. Trevelyan Castle ragte in der Dunkelheit vor ihnen auf. Die hohe Festung aus verwittertem Stein mochte, gemessen an den Standards der berühmteren Burgen Wiltshires, bescheiden erscheinen, aber es war nicht dem Verfall anheim gestellt worden wie Old Wardour Castle ganz in der Nähe.
Über die Jahrhunderte waren zahllose Neuerungen so geschickt vorgenommen worden, dass die Bauten aus Mittelalter, Gotik und Renaissance miteinander verschmolzen. Die Burg rühmte sich all der Wasserspeier und Strebebögen, die das Stadthaus des Viscounts so schmerzlich vermissen ließ. Sie machte den Eindruck, als besäße sie auch einen voll ausgestatteten Kerker, komplett mit in der Wand verankerten Ketten und einer eisernen Jungfrau.
Als Caroline ihren Blick zur Burgwehr emporwandern ließ, ergoss sich ein Schwall Regenwasser aus dem Maul eines Wasserspeiers, der bedrohlich die Zähne fletschte. Eine düstere Vorahnung erfasste sie. Was, wenn sie sich geirrt und einen gewaltigen Fehler gemacht hatte, indem sie ihre Schwestern hergebracht hatte? Einen Fehler, der sich nicht dadurch korrigieren ließ, dass sie die Zahlen im Haushaltsbuch neu zusammenrechnete?
Ehe sie ihnen auftragen konnte, wieder in die Kutsche zu steigen, und vom Kutscher verlangen, sie so schnell wie möglich nach London zurückzufahren, schwang die eisenbeschlagene Eichentür der Burg weit auf, und sie wurden ins Innere des Hauses geführt.
Sie standen tropfnass auf dem Steinboden einer riesigen Eingangshalle. Jahrhundertealte Kälte schien die Luft zu erfüllen, ließ Caroline erschauern. Der ausgestopfte Kopf eines Hirsches starrte sie von der gegenüberliegenden Wand an, einen wilden Glanz in seinen glasigen Augen.
Portia schob ihre schmale Hand in Carolines und flüsterte: »Ich habe gehört, ein Haus spiegelt das Wesen seines Eigentümers wider.«
»Genau das fürchte ich auch«, flüsterte Caroline mit einem Blick auf die uralten Wandbehänge mit ihren wüsten Bildern von Blutvergießen und Mord.
Manche zeigten alte Schlachten in ihrer ganzen gewalttätigen Pracht, während andere die Jagd verherrlichten. Auf dem Wandteppich neben Caroline setzte ein zähnefletschender Jagdhund gerade zum Sprung an, um einer anmutigen Hirschkuh die Kehle zu zerfleischen.
Selbst Vivienne schaute sich zweifelnd um, erklärte aber: »Ich bin sicher, bei Tageslicht sieht es gleich viel anheimelnder aus.«
Sie alle erschraken, als ein Butler mit einem leichten Buckel und schlohweißem Haar aus den Schatten auftauchte, einen Kerzenleuchter in der gichtigen Hand. Er war so alt, dass Caroline meinte, sie könnte seine Knochen knirschen hören, als er auf sie zuschlurfte.
»Guten Abend, meine Damen«, rief er, seine Stimme war beinahe so rostig wie die alte Rüstung in dem Alkoven rechts von Caroline. »Ich nehme an, Sie sind die Schwestern Cabot. Wir haben Sie erwartet. Ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Reise.«
»Einfach himmlisch«, log Portia und knickste vergnügt.
»Ich bin Wilbury und stehe Ihnen zu Diensten während Ihres Aufenthaltes auf der Burg. Ich bin sicher, Sie möchten gerne Ihre nassen Kleider ablegen. Wenn Sie mir folgen wollen, zeige ich Ihnen Ihre Zimmer.«
Der Butler drehte sich um und ging mit schleppenden Schritten zu der breiten Steintreppe, die nach oben ins ungewisse Dunkel führte. Caroline war nicht bereit, ihm einfach so zu
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