Wenn die Seele nicht mehr leiden kann - Gewalt in der Ehe (German Edition)
als freundliche, ganz normale Frau, deren blonde Haare von grauen Strähnen durchzogen waren. Sie war ein wenig größer und entschieden kräftiger gebaut als ich. Ihre Brillengläser verliehen ihr einen strengen Gesichtsausdruck, doch ihren Augen blitzten wach und lebendig. Wir saßen um den gedeckten Tisch und ließen uns von unserem Gast unterhalten, der ein paar lustige Episoden zum Besten gab. Doch war die Frau auch eine aufmerksame Zuhörerin, die sich über die Situation von Frauen wie mir sehr wohl im Klaren war.
Ich freute mich sehr darüber, dass sie sich für eine so unbedeutende Person wie mich Zeit nahm. Sie bat mich, ihr Gesellschaft zu leisten, während sie auf dem Balkon eine Zigarette rauchte. Dort sprach sie dann ganz normal über Kinder und verschiedene Ansichten über das Leben.
Später spielte sie ein wenig mit David auf dem Sofa und sagte, wie niedlich er angezogen sei.
Auch ließ sie sich bereitwillig mit einer Polaroidkamera fotografieren, damit wir ein schönes Erinnerungsfoto hätten. Es wurde wahrlich ein unvergesslicher Tag in unserem Heim, ein Tag, den ich auch bitter nötig hatte, um ein bisschen von meiner Einsamkeit und meinen Zukunftsängsten abgelenkt zu werden. Die unbeschwerte Gemeinschaft mit den anderen linderte für einen Moment die Panik, die mich immer ergriff, wenn Mati mich nachts in meinen Träumen besuchte.
In den folgenden Wochen wurde mir klar, dass die Polizei offenbar mehr wusste, als sie mir sagen wollte. Die Personen, die vor Gericht eine Zeugenaussage machen sollten, bekamen sogenannte Alarmtelefone, die sie stets bei sich trugen, und wurde von der Polizei genau instruiert, welche Vorsichtsmaßnahmen sie treffen sollten. Wer einen Briefschlitz in der Tür besaß, sollte diesen verschließen, um nicht Gefahr zu laufen, dass jemand Benzin in ihre Wohnung kippte und ein brennendes Streichholz hinterherwarf. Niemand durfte nach Einbruch der Dunkelheit noch vor die Tür gehen. Wer sich verfolgt fühlte, sollte sofort die Alarmtaste betätigen. Meine Eltern waren gezwungen, sich jeden Morgen flach auf den Boden zu legen, um sich zu vergewissern, dass niemand eine Bombe unter ihrem Auto angebracht hatte. In den Nächten patrouillierten regelmäßig Streifenbeamte durch Unterhaching und durch München. An manchen Abenden rollte Stunde um Stunde immer wieder dasselbe Auto mit ausgeschalteten Scheinwerfern an Mamas und Gabriels Wohnung vorbei. Es war so, als hätte sich ein undurchdringlicher Nebel über das Leben aller Beteiligten gelegt. Niemand durfte am Telefon über die Angelegenheit sprechen, da die Gespräche womöglich abgehört wurden. Meine Eltern lösten eines Abends auf dem Heimweg panisch den Alarm aus, als sie bemerkten, dass sie von zwei maskierten Männern in einem BMW verfolgt wurden. Aber dann stellte sich heraus, dass die jungen Männer auf dem Weg zu einem Fest waren und sich einen Spaß gemacht hatten.
Auch wenn die Polizei mich bisher unterstützt hatte, merkte ich bald, dass es nicht ihr Hauptanliegen war, mich zu schützen. Ihre Hilfe war gewissermaßen die Fassade, die ein anderes Motiv verbarg. Im Grunde wollten sie Mati mit meiner Hilfe noch schwerere Verbrechen als die Misshandlung seiner Frau nachweisen. Doch ich konnte ihnen nicht helfen. Ich wusste zwar, dass er keinem harmlosen Gewerbe nachging, doch war ich nicht so mutig gewesen, ihn zur Rede zu stellen, wenn er in den frühen Morgenstunden nach Hause kam. Ich wollte lieber nicht wissen, wo er gewesen war. Viele der dubiosen Typen, die zu uns nach Hause kamen, sprachen Estnisch, und so hatte ich es mir rasch angewöhnt, mich ins Schlafzimmer zurückzuziehen, wenn sie da waren. Und selbst wenn ich der Polizei irgendwelche Informationen hätte geben können, hätte ich David und mich nur noch mehr in Gefahr gebracht. Was hätte es mir und meinem Kind geholfen, wenn ich die Namen irgendwelcher Gangster hätte angeben können? Warum sollte ich mein Leben noch mehr zerstören?
Ich hätte einen sehr hohen Preis bezahlen müssen, wenn ich irgendwelchen Polizisten die Gelegenheit gegeben hätte, sich auf meine Kosten zu profilieren. Was würde mit mir passieren, so fragte ich mich, wenn der Vorhang sich senkte und alle Statisten die Bühne verließen? Dann stände ich mit meinem Kind allein im Rampenlicht, schutzlos und preisgegeben. Mitleid hätte ich nicht zu erwarten, denn schließlich hatte ich freiwillig mit einem Verbrecher zusammengelebt und musste die Schuld bei mir selbst suchen,
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