Wenn die Wahrheit nicht ruht
Herrn dem Verhafteten jegliche Hilfe zusicherte, aber anstelle eines Ausdruckes der Dankbarkeit wurde der Sträfling ausfällig und ging überraschend zum Angriff über . Erschrocken riss Verena die Augen weit auf und sch lug sich die Hand vor den offenstehenden Mund. Nun stand ihre Meinung fest. Empörung und Verachtung schienen die passenden Emotionen.
Gegenüber dem Balkon , im Schatten der Häuser , stand er nun und beobachtete die ganze Szene , genauso, wie er immer wieder einen Blick zum Balkon warf. Die Geste, wie sie sich vorhin die Hand vor den Mund geschlagen hatte, wirkte gekünstelt und auch etwas grotesk.
Unbewusst betastete er seinen Ehering. Dann schüttelte er leicht den Kopf. Für diese Art Ablenkung war jetzt nicht der richtige Zeitpunkt. Er musste sich konzentrieren. N achdem niemandem im Gasthof entgangen war, dass draussen ungewohnte Unruhe h errschte, war auch er in einigem Abstand zu den anderen wild spekulierenden Gästen zum Schaupla tz des Geschehens aufgebrochen.
Genauso , wie er im Gasthof das Gespräch belauscht und sich alles genau eingeprägt hatte, beobachtete er nun mit wachsendem Interesse das Verhalten der Schaulustigen, das Auftreten der Herren Hans und Moritz und die daraus resultie rende Reaktion des Verhafteten.
Nachdem jener dann abgeführt war und sich die Bevölkerung langsam wieder zu zerstreuen begann , rückte er noch etwas näher an die Hauswand und wartete mit möglichst teilnahmsloser Miene im Schutze des überhängenden Eingangsbereichs , bis nur noch wenige U nschlüss ige auf dem Platz herumstanden.
Viele begaben sich zurück an ihre liegengelassene Arbeit. Manche versammelten sich g rüppchenweise in einiger Entfernung um die Köpfe zusammenzustecken und wild gestikulierend über die willkommene Unterbrechung der Alltagsmonotonie zu schnattern. Während vor allem die aufgeregten Damen ihre n Tratsch an die Theken der Läden verschoben, begaben sich die Herren vorwiegend in die dunkle Vertrautheit der Gaststuben. Und genau das tat er ihnen nach. Vorsichtig trat er aus seinem Versteck und ging mit leicht gesenktem Kopf zurück in das Wirtshaus, von wo aus er gestartet war .
Als er feststellte, dass weder Moritz noch Hans anwesend waren, setzte er sich an die Theke , mit dem Ziel , soviel wie möglich von dem Gerede aufzuschnappen und sich selbst ein wenig mit der grossbusigen Bardame zu unterhalten, deren weisse Haut so verführerisch aus dem weiten Ausschnitt glänzte. Denn niemand wusste mehr von den alltäglichen Bürden eines Dorfes als sie .
Etwas verärgert musste er feststellen, dass der Hocker in der Nähe des Kühlschranks mit dem Wein schon besetzt war. Also wählte er sich bewusst denjenigen neben dem Zapfhahn. Um ins Gespräch zu kommen, bestellte er sich ein Bier, womit sich seine Platzwahl bereits das erste Mal auszahlte.
„Ist ja einiges los bei euch.“
„Das kann man wohl sagen. Aber glaub ja nicht, dass das immer so ist.“
Er nahm ihr ihre Umgangsform keineswegs übel, denn er wusste, dass dies dazugehörte. Sie setzte ihm das Bier vor und er trank genüsslich einen grossen Schluck. Er wollte ihr Zeit geben. Zeit, die anderen Gäste zu bewirten, denn er wollte nicht aufdringlich sein. Seiner Meinung nach war dies die einzige Chance Informationen zu sammeln ohne bleibende Erinnerungen zu hinterlassen und unauffällig wieder verschwinden zu können.
„Ach nein? Und ich dachte, hier würden jeden Tag irgendwelche Leute verhaftet.“ Er versuchte es mit einem ironischen Tonfall und erntete tatsächlich ein Lächeln. Volltreffer.
„ Naja, manchmal verschwinden die Leute auch einfach. Richtig unheimlich!“ Sie zwinkerte ihm verschwörerisch zu. „Aber w enn das öfter so wäre, könnte Grächen wohl schliessen. Und das wäre kaum im Sinne des Häuptlings.“
„Das klingt, als hätte er noch einiges vor.“
„Das klingt nicht nur so, das ist so. Die Ha n nigalpbahn war nur der Anfang. Es sollen da oben noch weit mehr Gebiete erschlossen werden.“ Da beide Hände mit Bierzapfen beschäftigt waren, wies sie mit den Augen in Richtung der Berge.
„Dann will Grächen in Zukunft voll und ganz auf den Tourismus setzen? Ein stolzes Vorhaben. Und wohl auch ziemlich teuer.“
„Oh, und ob! Allerdings hat der Chef, also der Hans, ein ziemlich gutes Händchen. Er hat schon mit der Gondel den richtigen Riecher bewiesen und viele Investoren gewinnen können. Wie mir zu Ohren kam, sind die Dividenden der Aktionäre zwar nett, aber es wäre
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