Wenn die Wahrheit nicht ruht
wohl niemand böse, wenn sie etwas höher ausfielen. Ich bin überzeugt, dass da noch Steigerungspotential dahinter steckt. Schliesslich ist die Bahn noch nicht so lange in Betrieb, aber die Leute kommen , und zwar immer mehr, also gibt’s bestimmt auch immer mehr abzusahnen.“
Sein Gehirn arbeitete auf Hochtouren, während sich die Bardame erneut mit zwei vollen Gläsern den beiden Herren gegenüber zuwandte. Als sie zurückkam , hatte er weit mehr Fragen, als sie wahrscheinlich Antworten. Deshalb riss er sich zusammen und beschränkte sich weiterhin auf das Ankratzen der Oberfläche. Er schaute sich erst im Lokal um und sagte dann: „Scheint so , als gäbe es für jeden Verschwundenen zehn neue Menschen. Sieht jedenfalls so aus , als würde das Wirtshaus hier richtig gut laufen. Deine Werkzeuge sehen jedenfalls auch ordentlich und relativ neu aus.“ Er l iess den Blick anerkennend hinter die Theke gleiten. Mit einem Augenzwinkern fügte er dann hinzu: „Vielleicht sollte ich aber eher sagen, ihr könnt froh sein, dass manche verschwinden? So geht euch wenigsten der Platz nicht aus.“
Wieder schmunzelte sie. Dann lehnte sie sich weit genug zu ihm hinüber, um sichergehen zu können, dass nur er richtig verstan d, was sie zu sagen hatte. „Weiss t du, seit die Bahn neu eröffnet hat, ist der Chef richtig spendabel geworden. Ich hatte schon lange um einen neuen Kühlschrank gebettelt . D er Zapfhahn war auch undicht . U nd auf einmal standen d a ein neuer Kühlschrank und ein neuer Zapfhahn. Ich wollte meinen Augen nicht trauen.“
„Wow, das ist ja nett. Da hat die Bahn wohl so manchem Aufschwung verliehen!“
„Besser gelaunt ist der Chef trotzdem nicht. Sitzt nach wie vor mürrisch an seinem Tisch und steckt den Kopf mit seinen zwei K umpels zusammen. Obwohl, jetzt ist’s ja nur noch einer , nachdem der Josef Reissaus genommen hat. Und ich sag noch vor Kurzem zu einer Freundin, jedes Mal wenn ich an den Tisch geh ’ , verstummt das Gespräch. So geheimnisvoll wie die tun, drehen die bestimmt dauernd irgendwelche krummen Dinger. Und als hätte ich’s heraufbeschworen, verschwindet plötzlich der Josef und jetzt wird auch noch der Ambros verhaftet. Echt unheimlich. “ Sie tat, als müsste sie ihr Unwohlsein und ihre Gänsehaut abschütteln, lächelte aber unbeirrt weiter.
Der anonyme Anrufer hatte also recht gehabt. Hier wurde irgendein grosses Ding gedreht. Jemand schraubte an den Einnahmen und ein anderer Jemand wusste , wer das tat. Das hatte er im Gefühl. Die Lösung schien zum Greifen nah, aber eben nicht nah genug. Er musste eindeutig diesem Amstutz auf den Zahn fühlen.
Zumindest war ein kleines, aber wertvolles Etappenz iel erreicht . Er war in den heiligen Kreis der Vertrauten der Barlady aufgenommen worden. Dass sie nichts auf den Klatsch gab, de n sie offenbar selbst nur zu gerne in sich aufsog und dann wie ein unter Druck stehender Gartenschlauch weiterverbreitete, war ihm klar. Es war auch gut so, dass sie nicht wusste, wie viel wertvolle Wahrheit zwischen den Zeilen dieses Geredes herausgelesen werden konnte. Die Hauptsache war, dass er es wusste.
2010
Egal , wie sehr sie sich bemühte, Leonie konnte das seltsame Gefühl, welches sie seit dem Sturz plagte , einfach nicht abschütteln. In ihrer Unruhe tat sie das, was sie sonst niemals tun würde. Sie rief ihre Mutter an.
„Leonie?“ Der übertrieben ungläubige Tonfall in Verenas Stimme bracht e Leonie bereits wieder auf die Palme, noch bevor sie selbst überhaupt einen Ton gesagt hatte.
„Hallo Verena.“ Hätte die Kälte in Leonies Stimme in die Atmosphäre übergreifen können, wären die Polkappen gerettet gewesen.
„Du weiss t doch, dass du mich nicht so nennen sollst. Ich bin deine Mutter, nicht eine x-beliebige Bekannte.“
Da war Leonie anderer Ansicht, aber dieses Thema wollte sie um jeden Preis meiden. „Wie du meinst. Mutter, ich hätte da eine Frage , die mich ganz schön verfolgt und ich hoffe, du kennst die Antwort darauf.“
„Ah, gleich zur Sache, wie? Bleibt denn nicht einmal mehr die Zeit, nach meinem Befinden zu fragen? Gut, vielleicht muss ich froh sein, dass du überhaupt anrufst. Du musst ja ganz schön verzweifelt sein.“
Mit einiger Mühe brachte es Leo nie fertig den v orwurfsvollen Tonfall zu ignorieren und den beissenden Ärger hinunterzuschlucken. „Mutter, du bist gerade wieder dabei dir selbst leid zu tun und im Hinterkopf malst du dir bestimmt jetzt schon aus, wie du dich
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