Wenn die Wahrheit nicht ruht
bei deinen Freundinnen über deine schreckliche Tochter beschwerst, also geht es dir gut. Somit hätten wir das geklärt. Mutter, Mama, ich weiss, es klingt seltsam, aber könnte es sein, dass ich schon einmal in Grächen war?“
Auf einmal war es ganz still. Kein Atemzug war mehr zu hören, kein herablassendes Schnauben . S elbst das typische Geräusch, das Verena von sich gab, wenn sie an ihrer Zigarette zog , war verstummt. Zum ersten Mal seit langer Zeit regt e sich in Leonie ein Gefühl, da s man wohl im Normalfall als einen Hauch von Sorge bezeichnen würde. Das war äusserst ungewöhnlich im Zusammenhang mit ihrer Mutter, daher wusste sie nicht recht, was sie damit anfangen sollte. „Verena, bist du noch da?“
Der gewünschte Effekt liess nicht lange auf sich warten. Ein scharfes Einatmen war zu vernehmen und die altbekannte Stimmung stellte sich wieder her. „Was habe ich dir gesagt, wie du mich nicht nennen sollst? Warum denkst du, schon einmal in Grächen gewesen zu sein ?“
„Ich war heute Skifahren. Oder sagen wir, ich hab’s versucht. Jedenfalls hat es mich nach einer Weile hingelegt und ich habe mich über ein ziemlich langes Stück hinweg als Schneeball versucht. Schlussendlich habe ich am Rand der Piste unter einem Felsen gestoppt. Eine Zeitlang habe ich dort dann einfach gelegen. Aber nicht nur, weil ich etwas benommen war und mich erschreckt hatte, sondern auch, weil sich in meinem Kopf so etwas wie ein Film abgespielt e . Es fühlte sich irgendwie an wie ein Déjà-vue oder eine Kindheitserinnerung. Es war e ine Art Erlebnis, das ich schon längst verd r ängt oder auch vergessen habe . Ich habe mir immer wieder gesagt, dass das nicht sein kann. Aber jetzt frage ich dich: Kann es doch? “
„Und du wirfst mir immer vor, ich würde alles dramatisieren!“ Davon, dass Verena all ihre Selbstbeherrschung aufwenden musste, um nicht von der Flut der aufkommenden Gefühle hinweggespült zu werden, merkte Leonie nichts. Dafür war Verena ein e zu grosse Meister in in ihrer Rolle. „Kind, es gibt nichts zu vergessen, denn du warst noch nie an diesem Ort. So, jetzt muss ich auflegen, der Friseur wartet. Tschüss Leonie.“
Ungläubig liess Leonie langsam ihr Mobiltelefon sinken. Alles war normal gewesen, dieselben Allüren wie im mer, aber dass sich Verena als e rste verabschiedete und dies auch noch zügig, das hatte es noch nie gegeben, ganz egal wie laut der Lockruf n ach einer G rau abdeckenden Haart önung ertönte. Damit stand fest, dass sie ihr etwas verheimlichte. Nur was?
Um neugierige Blicke auszusperren waren die Fensterläden geschlossen. Nur durch die Lamellen drang streifenweise Tageslicht, welches Verenas versteinerte Gesichtszüge etwas weicher wirken liessen. Konzentriert auf den Gefühlsaufruhr hielt sie ihren Blick noch eine Weile auf das Fenster gerichtet, bevor sie sich umdrehte. Der Raum lag im Halbdunkel vor ihr, lediglich eine brennende Zigarette schien die düsteren Schatten vertreiben zu wollen. Indem sie bei jedem Zug etwas stärker aufglomm, nur um dann wieder schwächer zu werden, schien es, als würde sie einen Kampf auf verlorenem Posten ausfechten. Langsam wich das emotionale Chaos einer angenehmen Vorfreude auf die kommenden Ereignisse und die Versteinerung wandelte sich zu einem Ausdruck kühler Gelassenheit. Mit wenigen Schritten war sie bei dem breiten , beigen Sofa, das den Raum dominierte und damit auch bei dem Mann, der für den glühenden Kampf der Zigarette verantwortlich war. Behutsam nahm sie seinen Kopf zwischen ihre Hände und gab ihm einen leidenschaftlichen Kuss. Nachdem sie sich wieder von ihm gelöst hatte, war ihre Stimme ganz ruhig und das F unkeln in ihren Augen wirkte beinahe bedrohlich. „Die Zeit ist gekommen, dem langen Warten endlich ein Ende zu setzen.“
„Oh, hallo!“ Das Erstaunen stand Angela förmlich ins Gesicht geschrieben, dennoch zögerte sie keine Sekunde, ihrem Überraschungsgast Einlass zu gewähren.
„Entschuldige, ich will eigentlich nicht stören, aber ich muss mit jemanden reden und da ich dieses Bedürfnis bisher noch nie hatte, kenne ich eigentlich auch niemanden, der dafür geeignet wäre. Und…“
Mit einem Lächeln auf den Lippen, das normalerweise eine Mutter ihrem schusseligen Sprössling schenkte, beendete Angela die hilflosen Erklärungsversuche, indem sie die Ausführungen schlicht unterbrach. „Komm herein, zieh die Schuhe aus und setz dich. Ich bin gerade dabei für die Mannschaft zu kochen.
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