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Wenn die Zeit aber nun ein Loch hat

Wenn die Zeit aber nun ein Loch hat

Titel: Wenn die Zeit aber nun ein Loch hat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Holt
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Gesicht an.
    »Was ist denn, Blondel?« erkundigte sich Guy besorgt.
    »Schau doch mal«, krächzte Blondel mit ausge-strecktem Zeigefinger.
    Guy folgte mit den Augen der Richtung des Zeigefingers und sah eine von diesen aufblasbaren Gum-miburgen, die dazu gedacht sind, daß Kinder auf ihnen herumtollen. Dort herrschte ein reges Treiben, und der Besitzer warf gerade zwei entzückende Gö-
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    ren von der Spielfläche, die mit einem Taschenmes-ser versucht hatten, die Gummihaut zu durchlöchern.
    »Ja und?« fragte Guy.
    »Schau doch mal genau hin!« forderte Blondel ihn auf. »Bist du blind, oder was?«
    Als Guy genauer hinsah, fiel ihm auf, daß auf der ihm zugewandten Seite der Burg ein Muster aus kleinen Tränen aufgetragen war, und er geriet ins Stutzen.
    Blondel stürmte auf die Burg zu. Als der Besitzer ihn auf sich zurennen sah, ließ er von den beiden kleinen Jungen ab und gaffte ihn an. Ein Polizist kam gerade aus dem Bierzelt und wischte sich mit dem Handrücken Schaum vom Mund. Guy warf Isoud einen ent-schuldigenden Blick zu und lief Blondel hinterher.
    »He, Sie da!« wies der Gummiburgbesitzer Blondel zurecht. »Sie dürfen da nicht rauf, das ist nur für Kinder erlaubt!«
    Blondel stand jetzt vor dem aufblasbaren Gummitor.
    Die Musik, die gerade aus den Lautsprechern schallte, brach mittendrin ab, und gleich darauf er-klang ein neues Lied. Guy erkannte die Melodie sofort; er hatte sie in letzter Zeit häufig gehört.
    Blondel wartete das Vorspiel ab und zählte die Takte bis zum Einsatz der Stimme mit. Dann sang er:
    »L’Amours Dont Sui Epris
    Me semont de chanter;
    Sifais con hons sopris;
    Qui ne puet endurer …«
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    Der Polizist blieb wie angewurzelt stehen und ließ die Arme sinken. Es war völlig still, nur Blondels gewaltige Stimme stieg zum Himmel auf und breitete sich in alle Richtungen aus, bis die ganze Welt von ihr erfüllt zu sein schien.
    »A li sont mi penser
    Et seront a touz dis;
    Ja nes en quier oster …«
    Guy fühlte sich wie ein Taucher, der sich verschätzt hat und nicht mehr länger den Atem anhalten kann, obwohl er noch weit von der Oberfläche entfernt ist.
    Die Luft um ihn herum schien sich unerträglich zu verdichten und ihn regelrecht zusammenzupressen, bis er das Gefühl hatte, daß ihm der Brustkorb und der Schädel eingedrückt wurden. Und dann sang irgendwo tief aus dem Innern der aufblasbaren Gummiburg eine Stimme:
    »Remembrance dou vis
    Qu’il a vermoil et clair
    A man euer a ce mis
    Que ne l’en puls oster …«
    Die Stimme klang wie eine Alarmsirene mit Bronchi-alproblemen. Dennoch war es das schönste Geräusch, das Blondel oder Guy oder Isoud oder selbst die GaleazzoBrüder (die beim Einsetzen der Musik gerade 415
    kurz davor gewesen waren, dem Dorfpfarrer eine
    ›Sterbeversicherung mit Sitzplatzgarantie im Himmel‹
    anzudrehen) jemals in ihrem Leben gehört hatten.
    Als die Stimme verstummte, setzte Blondel wieder ein. Und seine Stimme klang so erfrischend wie die erste Knospe im Frühling, die erste Schneeflocke im Winter und der erste Regentropfen nach einer langen Trockenzeit zugleich. Er sang:
    »Plus bele be vit nuls
    De le nors ne de vis;
    Nature ne mist plus
    De beaute en nul pris
    Por U maintaindrai l’us
    D’Eneas et Paris,
    Tristan et Pyramus
    Qui ameraient jadis.«
    Und es war, als sänge die ganze Welt, die gesamte Menschheit aus acht Jahrhunderten mit, die plötzlich Ihren Fehler einzusehen und heilfroh zu sein schien, daß sich nun alles wieder zum Guten gewendet hatte:
    »Or serai ses amis
    Or pri Deu de la sus
    Qu’a lorfin soie pris.«
    Giovanni kämpfte mit den Tränen und griff nach seinem Taschentuch. Er weinte aus purer Freude; er dachte an die königlichen Tantiemen.
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    Apropos königlich; plötzlich entwich die Luft aus der Burg, und sie sackte in sich zusammen. Wie aus dem Nichts tauchte mittendrin ein Mann auf. Ein ha-gerer dann, geblendet vom Tageslicht, das er seit achthundert Jahren nicht mehr gesehen hatte. Ein Mann, der seinen steifen Rücken hatte und eine Ratte streichelte.
    Ein Mann, dem Unrecht zugefügt worden war und der nun sein Recht einfordern wollte.
    »Mein lieber Freund!« begrüßte er Blondel erfreut.
    »Das war wirklich furchtbar anständig von dir, aber du hättest dir wirklich nicht diese viele Mühe machen sollen. Weißt du, ich bin mit meinem Tun-nelbau prima vorangekommen. Trotzdem« – er hielt inne, atmete die klare Luft ein und saugte das Son-nenlicht auf, bis er davon zu glühen schien –

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