Wenn du mir vertraust: Roman (German Edition)
spürte die Missbilligung, die er ihr entgegenbrachte. Warum? Weil sie geschieden war, oder weil sie gerichtlich gegen ihren Ex-Ehemann vorging?
»Ich habe es versucht«, erwiderte sie ruhig. »Er geht nicht ans Telefon.«
»Aber Sie haben ihn doch gerade erst gesehen. Vor Gericht.« Er betonte das Wort ›Gericht‹ – sie hatte sich nicht getäuscht, er verurteilte sie.
»Ich war da. Er ist nicht erschienen.«
»Dann hat er offenbar mehr Probleme, als ich dachte.«
» Mehr Probleme?«
Tim O’Caseys Augen verengten sich. Er fuhr sich mit der Hand durch die Haare und musterte Neve, als überlegte er, wie er zum nächsten Schlag ausholen sollte. Sie spürte, wie ihr Blut in Wallung geriet – während der Scheidung hatte sie nicht nur feststellen müssen, dass die Leute Partei ergriffen, sondern auch, dass die meisten Männer automatisch zu ihren Geschlechtsgenossen hielten. Sie unterstellten den Frauen, dass sie ihre Männer fertigmachen wollten, sie finanziell auszupressen wie eine Zitrone. Neve war so geladen, dass sie ihn kaum anschauen konnte.
»Als wir Mickey ins Krankenhaus brachten, weinte sie und hatte Schmerzen; sie erzählte mir, dass ihre Eltern kein Wort miteinander wechseln, außer vor Gericht oder wenn Sie Ihre Tochter vor seinem Haus absetzen. Das schmerzt gewiss mehr als ein gebrochenes Handgelenk.«
»Haben Sie Kinder?« Sie kochte vor Wut.
»Einen Sohn. Und ich bin geschieden. Ich weiß, wie er darunter gelitten hat.«
Neve spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht schoss. Sie stand da, die blutverschmierte Mütze ihrer Tochter in den Händen, und musste die Verachtung eines Fremden über sich ergehen lassen. Sie fühlte sich von ihm getäuscht, weil er sich zunächst so mitfühlend gegeben hatte.
»Sie maßen sich ein Urteil an, obwohl Sie mich nicht kennen. Uns nicht kennen«, erwiderte sie. »Versuchen Sie also gar nicht erst, mir zu erzählen, was ich zu tun und zu lassen habe, wenn es um Mickey und ihren Vater geht. Sie …«
In diesem Augenblick trat ein Arzt in die Behandlungskabine. Er war jung und in Eile.
»Mrs. Halloran?« Er sah Neve an. »Ich bin Dr. Freeman. Die Schwester sagte mir, dass ich Sie hier finde.« Er musterte sie
so eindringlich, dass ihr Herz zu Eis erstarrte und sie Tim O’Caseys Gegenwart mit einem Schlag vergaß.
»Wo ist Mickey?«, flüsterte sie.
»Sie fragt nach Ihnen.« Er lächelte. »Sie hat sich ein gebrochenes Handgelenk und ein paar Schürfwunden und Prellungen zugezogen, aber das wird wieder. Kommen Sie, ich bringe Sie zu ihr.«
Neve folgte ihm, ohne zurückzublicken. O’Caseys Worte und die Art, wie er sie angeschaut und zurechtgewiesen hatte, waren ein Schlag, der schmerzte, doch als sie durch den Korridor ging, schüttelte sie den Gedanken an die unliebsame Begegnung ab. Er hatte bei der Scheidung vermutlich Federn gelassen und rächte sich nun an allen Ex-Ehefrauen, die ihm über den Weg liefen. Der Doktor öffnete eine Tür und da war Mickey; sie saß auf einem Untersuchungstisch, den linken Arm in Gips.
»Mom!«
»Ach, Mickey!« Neve schloss sie in die Arme. Sie hielten sich eng umschlungen und Neve spürte, dass sie innerlich zitterte. Als sie einen Schritt zurücktrat, sah sie die Schürfwunden an Mickeys Stirn, die Prellung an ihrer Schläfe, das getrocknete Blut, das an den Haaren klebte. Aber die grünen Augen strahlten, und ihr Lächeln war noch das gleiche.
»Schau mal, ich habe einen Gips!« Sie hielt den Arm hoch.
»Habe ich schon bemerkt. Was ist passiert?«
»Wo ist Dad?« Mickey sah sich suchend um.
»Ähm, ich habe ihm eine Nachricht hinterlassen … Mickey, was ist passiert?«
»Ich bin auf dem Sandweg gestürzt … ich glaube, da war eine vereiste Stelle, auf der ich ausgerutscht bin. Jenna und ich sind mit dem Rad zum Strand gefahren, um nach der Schneeeule Ausschau zu halten, und wir haben sie tatsächlich gefunden, Mom! Sie war unglaublich schön … Sie hockte in den Dünen, neben einem Stück Treibholz, genau wie in der Arktis!«
»Toll.« Neve freute sich für ihre Tochter, die ein so seltenes Geschöpf mit eigenen Augen gesehen hatte. Das war die erste gute Nachricht an diesem Tag, und Mickeys Begeisterung weckte in ihr den Wunsch, sich die Eule selbst anzuschauen. Sie liebten beide die Natur und besonders Vögel.
»Ich zeige sie dir«, versprach Mickey.
»Ich komme auf dein Angebot zurück. Aber jetzt sollten wir nach Hause fahren. Kann ich sie mitnehmen?«, fragte sie den Arzt.
»Ja, natürlich,
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