Wenn du mir vertraust: Roman (German Edition)
sie kann gehen, wann immer sie möchte. Ich bin vorne an der Rezeption und mache die Entlassungspapiere fertig«, erklärte Dr. Freeman und verließ den Raum.
»Klasse!« Mickey warf einen flüchtigen Blick auf ihr blaues Krankenhaushemd. »Wo sind meine Anziehsachen?«
»In der Untersuchungskabine. Ich hole sie.«
»Mom, da war ein Junge aus meiner Klasse, ein Surfer, der mir geholfen hat. Er ist die ganze Strecke zu Mr. O’Casey gelaufen, dem Ranger, der so nett war, mich in die Klinik zu begleiten, damit ich nicht alleine war.«
»Ich weiß, ich habe ihn schon kennengelernt.« Neve achtete auf einen sachlichen Ton, der nichts verriet.
»Er kümmert sich um den Strand, Mom, und um die Vögel und Tiere, die dort landen. Er hat mir erzählt, dass die Schneeeule, die wir gesehen haben, jedes Jahr dorthin zurückkehrt, und er vergewissert sich, dass die Hobbyornithologen nie
den genauen Standort verraten – weil er nicht möchte, dass die Schaulustigen in hellen Scharen herbeiströmen und sie in die Flucht schlagen. Schneeeulen sind sehr scheu, hat er gesagt.«
»Scheint so, als sei Mr. O’Casey gut informiert.«
»Mom, Jenna hat es nicht gerade vom Hocker gerissen. Nicht wirklich. Es war irgendwie seltsam; ich meine, wir sichten eine Schneeeule und sie hat keine Lust, dazubleiben und sie zu beobachten!«
»Nun, es ist ziemlich kalt da draußen. Vielleicht wollte Jenna schnellstmöglich nach Hause und sich aufwärmen.« Neve berührte Mickeys Kopf. Ihr war in letzter Zeit aufgefallen, dass sich die beiden Freundinnen entfremdeten; Jenna wurde schneller erwachsen. Sie hatte einen Freund und verbrachte ihre Zeit inzwischen lieber mit seiner Clique, ging ins Kino oder zum Shoppen ins Einkaufszentrum und interessierte sich zunehmend für alles, womit sich die meisten Teenager beschäftigten, während Mickey noch Spaß daran hatte, draußen in der Natur zu sein.
Mickey zuckte die Achseln und runzelte die Stirn. »Shane, der Junge, der mir geholfen hat, meinte, dass sie am Strand etwas vorhaben. Jenna wusste es bereits, aber sie hat mir kein Wort davon erzählt. Ich verstehe das nicht. So war sie früher nie. Oh, Mom – ich habe Mr. O’Casey gebeten, Dad und dich anzurufen. Hast du ihn bei der Verhandlung getroffen? Ist alles in Ordnung?«
»Es gibt nichts, worüber du dir Sorgen machen müsstest.«
»Das klingt aber nicht danach, dass alles in Ordnung ist«, erwiderte Mickey nachdenklich. »Ich wünschte, Dad wäre hier. Steckt er in Schwierigkeiten? Du musst es mir sagen, Mom!«
»Immer eins nach dem anderen, Mickey. Zuerst bringe ich dich nach Hause. Ich hole deine Sachen, und dann können wir fahren.«
»Wenn du Mr. O’Casey siehst, sag ihm bitte, dass ich mich bei ihm bedanke.« Mickey lächelte, ungeachtet der Sorgen, die sie sich um ihren Vater machte.
»Ich werde es ausrichten.«
Das hätte sie auch getan. Als sie den Korridor entlang zur Untersuchungskabine eilte, schwor sie sich, ihre Gefühle im Zaum zu halten und dem Ranger für alles, was er für Mickey getan hatte, von ganzem Herzen zu danken. Unterwegs kam ihr die Schwester von der Rezeption entgegen, um ihr mitzuteilen, dass der Versicherungsschutz erloschen sei und sie Mickeys Behandlung aus eigener Tasche bezahlen müsse.
Heute konnte sie nichts mehr aus der Fassung bringen. Als sie endlich die Kabine erreichte, war sie leer. Weit und breit kein Zeichen von Ranger O’Casey. Mickeys Kleider befanden sich noch auf der Ablage. Und dort, oben auf dem Bündel, lag eine Visitenkarte. Neve hob sie auf. Sie trug das Siegel von Rhode Island und die Aufschrift Timothy J. O’Casey, Park Ranger, Salt Marsh Nature Refuge, Secret Harbor, RI. Auf die Rückseite hatte er geschrieben: »Pass gut auf dich auf, Mickey. Ich hoffe, du bringst deine Mutter mit, wenn du das nächste Mal die Schneeeule besuchst.«
»Danke, wie großzügig«, murmelte Neve. Sie nahm Mickeys Kleider und kehrte eilends zurück; sie fragte sich, woher sie das Geld nehmen sollte, um die Krankenhausrechnung zu bezahlen, wusste aber, wie sehr sich Mickey über die Worte des Rangers freuen würde.
3
A ls sie sich in der frühmorgendlichen Kälte anzog, fiel Mickey wieder ein, dass heute der letzte Termin war, um das Geld für die Klassenreise abzugeben. Die Fahrt sollte nach Washington gehen, im Frühjahr, während der Ferien. Sie würden in einem Hotel auf dem Capitol Hill übernachten, das Smithsonian, das Lincoln Memorial und den Supreme Court besuchen und die
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