Wenn du mir vertraust: Roman (German Edition)
finden, okay? Mickey zuliebe.«
»Alles geht den Berg runter«, erwiderte er dumpf, als hätte er sie nicht gehört.
»Das muss nicht sein. Wir werden einen Weg …«
Er hatte aufgelegt. Sie hörte es klicken, dann folgte das Freizeichen. Den Hörer in der Hand, spürte sie, wie ihr Herz klopfte. Richard war nicht mehr ihr Ehemann, er war nicht ihr Problem – nicht mehr. Aber er war Mickeys Vater und würde es immer bleiben.
Sie ertappte sich bei dem Gedanken, was wohl in dem Päckchen sein mochte, das Tim O’Casey vorbeigebracht hatte. Ungeachtet dessen, was sie von ihm hielt – Mickey würde sich freuen, dass er an sie gedacht hatte.
Mickey wusste, dass etwas nicht stimmte, als ihre Mutter von der Arbeit nach Hause kam. Vielleicht, weil ihr Lächeln eine Spur zu strahlend wirkte oder weil sie schnurstracks in die Küche ging und zu kochen begann – ohne sich ein paar Minuten hinzusetzen und sich mit ihr über den Tag zu unterhalten.
»Was ist los?«, fragte sie.
Neve warf ihr einen raschen Blick zu und Mickey sah, dass sich die Miene ihrer Mutter augenblicklich verdüsterte. Die beiden waren so vertraut miteinander, dass sie die Gedanken des anderen kannten. Es fiel ihnen schwer, Geheimnisse voreinander zu haben. Schon als Kind konnte Mickey ihre Mutter alles fragen und davon ausgehen, dass sie eine ehrliche Antwort bekam. Das Problem war, dass sie bisweilen nicht besonders erpicht darauf war, die Wahrheit zu erfahren.
»Geht es um Dad?«
»Ja. Ich habe heute mit ihm gesprochen …«
»Warum hat er mich nicht angerufen?«
»Mickey, er trinkt wieder.«
Die Antwort war wie ein Faustschlag in die Magengrube. Mickey ging zum Küchentisch, musste sich setzen. Sie starrte die Salz- und Pfefferstreuer an, die neben dem Serviettenhalter standen. Heiße Tränen brannten in ihren Augen. Warum musste es immer so kommen? Andere Väter tranken auch Alkohol und veränderten sich nicht. Wenn ihr Vater trank, ging die ganze Welt zu Bruch.
»Ich bin ihm gleichgültig geworden.«
»Das ist nicht wahr.«
»Er bekommt ein neues Kind, und ich zähle jetzt nicht mehr.«
»Mickey – du bist das Wichtigste, das es gibt!«
Wie konnte ihre Mutter so etwas behaupten? Sah sie nicht, was los war? Sie beugte den Kopf so tief, dass Neve ihr nicht an den Augen ablesen konnte, wie verloren sie sich fühlte. Ihr Vater lebte mit Alyssa zusammen, und die beiden hatten eine neue Familie gegründet. Er hatte sowohl ihre Mutter als auch sie aus seinem Leben gestrichen – er war durch die Tür verschwunden, war aus ihrem Leben verschwunden und würde nie mehr zurückkommen, so viel stand fest.
»Sein Verhalten hat nichts mit dir zu tun …«
»Woher willst du das wissen?« Mickey starrte ihren Gipsverband an. Sie erinnerte sich an andere Verletzungen, die sie sich zugezogen hatte; ihr Vater war immer bei ihr gewesen – als sie sich das Kinn aufgeschlagen hatte, das genäht werden musste; oder die Schürfwunde am Knie, die er behutsam gesäubert und verbunden hatte.
Sie saß am Küchentisch und wartete darauf, dass ihre Mutter antwortete. Das Schweigen schien ewig anzudauern; kein Wort kam über Neves Lippen – als wäre sie selbst ratlos und unfähig zu begreifen, wie es zu einer solchen Situation gekommen war. Statt zu antworten, kam sie zum Tisch und legte die Arme um Mickey.
»Ich liebe dich.«
»Ich liebe dich auch.« Mickey barg das Gesicht an der Schulter ihrer Mutter.
»Übrigens, jemand hat ein Geschenk für dich abgegeben.«
Mickey hob den Blick und sah, wie Neve zur Anrichte hinüberging und mit einem in Geschenkpapier eingewickelten Päckchen zurückkehrte. Aufgeregt riss sie es auf – es enthielt einen großen Bildband mit dem Titel Weiße Nächte: Schneeeulen im Flug . Sie blätterte darin, überflog die Fotos, die gestochen scharf, brillant und beinahe magisch wirkten. Auf dem Titelblatt stand eine persönliche Widmung, und sie beugte sich näher heran, um sie zu lesen:
Für Mickey.
Ich freue mich sehr, dass du dich so für Vögel interessierst.
Tim O’Casey, Ranger
»Wow, das ist aber nett.«
»Er hat es heute Morgen gebracht, kurz nachdem du zum Schulbus gegangen warst. Das bringt mich auf eine Idee …«
»Mom.« Mickey blickte aus dem Küchenfenster und lächelte. Heute war es draußen ein wenig wärmer; die Eiszapfen, die an den Dachrinnen hingen, waren verschwunden und der Schnee schmolz zusehends. Wie lange würde die Schneeeule noch am Strand bleiben, bevor sie nach Hause flog,
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