Wenn du mir vertraust: Roman (German Edition)
bemühte sich nun, so leise wie möglich zu atmen, spürte die eisige Luft auf den Wangen und Lippen. Sie schmiegte sich enger an Neve, während sich beide so tief wie möglich duckten, um zu verhindern, dass der Wind ihren Geruch zu der Eule hinübertrug.
Als Mickey aufs Meer hinausblickte, ging der Vollmond gerade über den Wellen auf. Riesig und schimmernd, glich er einem beinahe perfekt gerundeten Pfirsich. »Schau …«, flüsterte sie, ihre Mutter darauf hinweisend.
»Nur noch wenige Tage«, flüsterte Neve zurück.
»Wünsch dir was …«, wollte sie sagen, doch dann verstummte sie. Sie wusste, dass sich die meisten Menschen beim Anblick einer Sternschnuppe etwas wünschten, aber der Mond war ihr schon immer lieber gewesen, seit frühester Kindheit; mit ihrer Familie hatte sie an mondhellen Abenden oft Spaziergänge unternommen. Sie hatte zum Mond aufgeblickt und stets das Gefühl gehabt, dass er auf sie herablächelte und ihre Familie zusammenhielt.
Für solche Wünsche war es inzwischen zu spät. Sie wandte ihre Aufmerksamkeit wieder der Eule zu, kniff die Augen zusammen und konzentrierte sich.
»Was wolltest du sagen?«, fragte Neve.
»Nichts.«
»Ich glaube, ich weiß es.«
»Es ist nichts, Mom, wirklich.«
»Wünsch dir was.« Neve legte den Arm um Mickeys Schultern. »Nur zu, Mickey … wünsch dir was.«
Mickey schloss die Augen. Sie dachte an ihren Vater, der so weit entfernt war, dass er in einer anderen Welt zu leben schien. Die Scheidung war der größte Schock ihres Lebens gewesen – die Erkenntnis, dass eine Familie, die miteinander durch dick und dünn gegangen war, die Hurrikane, Schneestürme, Sonnenuntergänge, Mondaufgänge, Sommer, Winter, Windpocken, Grippe, Kopfschmerzen, Frühjahrskonzerte, Kotflügeldellen, umgestürzte Bäume, den Tod der Großeltern und so viele andere Erfahrungen, die das Leben in seinen Grundfesten erschütterten, miteinander geteilt hatte … dass diese Familie aufhören konnte, zu existieren. Ihre Mutter und sie waren zusammengeblieben, aber ihr Vater war in eine andere Welt entschwunden.
»Wünsch dir was, Mickey«, flüsterte Neve abermals. »Was du willst …«
Mickey kniff die Augen noch fester zusammen. Vermutlich erwartete ihre Mutter, dass sie sich wünschte, ihr Vater möge mit dem Trinken aufhören oder wieder nach Hause kommen, doch heute Abend spürte sie, dass sich etwas in ihrem Inneren verändert hatte; ihr Herz war erneut gebrochen, aber dieses Mal auf andere Weise. Sie ergriff die Hand ihrer Mutter, und als sie Augen öffnete und die Schneeeule anblickte, die unerschrocken und reglos auf dem Treibholz hockte, das weiße Gefieder im Mondlicht schimmernd, flüsterte sie: »Ich wünschte, ich könnte sehen, wie sie zur Jagd aufbricht.«
Und ihr Wunsch ging in Erfüllung.
Zehn Minuten später sahen sie, wie die Eule den Kopf drehte und sich umsah; die gelben Augen leuchteten wie Sterne. Sie veränderte ihre Haltung, kräuselte ihr Gefieder und schüttelte sich, als führte sie Lockerungsübungen vor einem wagemutigen Kunststück durch. Mickey wusste, dass sie langsam erwachte, nachdem sie den ganzen Tag geschlafen hatte, dass sie ein Nachtvogel war, den es in die Dämmerung hinauszog.
Die Eule schlug ein- oder zweimal mit den Flügeln, dann erhob sie sich mit ihren mächtigen weißen Schwingen in die Lüfte, flog geradewegs über Mickey und Neve hinweg. Mickey erhaschte einen Blick auf ihre erbarmungslosen goldenen Augen, den schrecklichen Schnabel, die tödlichen Fänge – sie spürte den Luftzug der schlagenden Flügel, die wie ein kalter Umhang über sie hinwegglitten, und sprang auf, um ihr nachzuschauen, als sie über dem Kiefernwald verschwand.
»Hast du das gesehen!«
»Ein herrlicher Anblick!« Neve war ebenfalls aufgesprungen und stand neben ihr.
»Das war das Unglaublichste, was ich jemals gesehen habe!«, rief Mickey.
Als sie sich zu Neve umdrehte, entdeckte sie zwei weitere Menschen, die aus ihrem Versteck hervorgetreten waren und am Strand standen: Ranger O’Casey war aus dem alten, nicht mehr benutzten Schlupfwinkel unmittelbar neben dem Gehölz getreten, der früher der Entenjagd diente, und Shane West war hinter der Düne hervorgesprungen. Die beiden standen reglos da und suchten mit ihren Blicken die Bäume ab, hielten Ausschau nach der Eule.
Es dauerte nicht lange, bis sie einander bemerkten. Es war beinahe komisch und ein wenig sonderbar, dass alle am selben entlegenen Ort aufgetaucht waren, um die Eule
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