Wenn du wiederkommst
allein und aufeinander angewiesen sind, so sehr, daß wir mit seltener Offenheit über uns reden können. Sie sagt mir, daß ich ihr schon immer mehr Freiheit zugestanden habe als ihr Vater.
Weil ich darauf vertraute, daß dir schon nichts passieren würde, entgegne ich, und weil ich nicht wollte, daß du so viele Lügen für uns erfinden mußt.
Wir erinnern uns an die Kämpfe, die sie mit ihm führte, als sie mit ihrem neuen Führerschein abends allein mit seinem Auto wegfahren wollte, nach Boston, an die North Shore ins Kino. Er war in Panik: Das käme überhaupt nicht in Frage, auf keinen Fall, sie könnte eine Kreuzung, ein Hinweisschild übersehen und in Roxbury landen, in den Slums, sie könnte mitsamt dem Auto angezündet werden, sie könnte überfallen werden. Ich setzte alle ihre kleinen Freiheiten gegen seine Angste und seine erstickende Liebe durch, und wenn es sein mußte, log ich für sie, um Jerome in Sicherheit zu wiegen, und sie dankte es mir mit ihrer Verläßlichkeit. Ich erinnere mich nicht, daß sie sich ein einziges Mal verspätet hätte, immer erschien sie pünktlich an unserem Treffpunkt, und wir kehrten einträchtig nach Hause zurück. Habt ihr euch gut amüsiert, fragte Jerome und freute sich darüber, wie vergnügt wir waren.
Manchmal hat Dad einen mit seiner Fürsorge schon erdrücken können, gibt sie zu.
Am Tag vor seinem fünfzigsten Geburtstag ging sie zum erstenmal mit Freunden in das Fenway Stadion zu einem Baseball Spiel der Red Sox. Nachdem wir zu Abend gegessen, ein Weingeschäft besucht, in einer Buchhandlung bis zur Sperrstunde geschmökert hatten und eine Weile herumgefahren waren, warteten Jerome und ich auf dem verabredeten Parkplatz vor einer Strip Mall, bis die Geschäfte eins nach dem anderen schlossen und die Lichter der Gebäudezeile erloschen. Es war nicht das einzige Mal, daß wir so warteten, und ich habe die Stunden nicht gezählt. Es wurde uns nicht langweilig, nie, wir redeten, und es war nichts Angestrengtes an unseren
Gesprächen. Wir hatten dabei nicht das Gefühl, wir müßten einander unterhalten. Und auch wenn wir nur dasaßen und schwiegen war es wie ein Gespräch. Oft hörten wir Musik auf unseren Fahrten, im Classical Channel wurden Komponist und Werk immer erst am Schluß angesagt, und wir wetteiferten im Erraten, wir stritten und gingen Wetten ein, und wenn es Zeit war auszusteigen, blieben wir sitzen, weil wir das Stück zu Ende hören mußten. Bevor Ilana geboren wurde, waren wir regelmäßig in Konzerte gegangen, später immer seltener. Die Fahrt nach Boston am Abend war Jerome oft zu beschwerlich, wir wurden mit den Jahren nachlässig und bequem, obwohl wir in Konzerten die glücklichsten Momente vollkommener Harmonie erfahren und mit Staunen festgestellt hatten, wie nah wir einander waren und wie verwandt. Als hätten wir zusammen nur ein Gehör, spürten wir im selben Augenblick, was uns ergriff. Wir haben nie ein Wort darüber verloren, wenn wir es fühlten, griff Jerome nach meiner Hand.
An jenem Abend, als wir auf das Ende des Baseballspiels warteten, saßen wir in der Dunkelheit im Auto auf dem großen leeren Parkplatz und hörten uns die Sportberichterstattung an. Als es Mitternacht war, sagte ich, Happy Birthday, und gab ihm einen Kuß. Auf einem Parkplatz muß ich fünfzig werden, erwiderte er mit gespielter Verdrossenheit. Ilana kam mit Klassenkameraden knapp vor ein Uhr nachts und fragte, ob wir ihre Freunde heimbringen könnten. Sie wohnten über die Vorstädte verstreut, und wir kamen um halb drei Uhr morgens nach Hause. Zumindest haben wir uns keine Sorgen um sie machen müssen, sagte Jerome, als er die Haustür aufsperrte.
So war Dad, sagt sie, am liebsten hätte er mich überallhin bis vor die Eingangstür gefahren und von dort wieder abgeholt,
und wenn es Tage gedauert hätte, aber nur so konnte er ganz sicher sein, daß mir nichts passieren würde. Er war bei uns die jiddische Mamme, sagt sie und legt mir tröstend ihre Hand an die Wange, zwei davon wären zuviel gewesen.
Wir sitzen lange in den Vormittag hinein beim Frühstück, es wird für die nächsten Wochen unser letztes sein. Sie erinnert sich an Situationen, die ich längst vergessen habe, und unsere Erinnerungen decken sich nicht immer.
Ich hatte doch diesen großen roten Chenilleschal, erzählt sie, damals, als wir vor meiner Augenoperation im Wartezimmer saßen, ich in der Mitte zwischen euch beiden, und die ganze Zeit flogen eure Gehässigkeiten hin und her,
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