Wenn es Nacht wird in Manhattan
saß sie in ihrer Wohnung und malte sich ihre Zukunft aus. Sie würde jemanden haben, der ihr ganz allein gehörte, jemand von ihrem eigenen Fleisch und Blut. Sie würde eine Mutter sein. Das war eine große Verantwortung. Aber auch eine große Freude. Sanft fuhr sie mit der Hand über ihren flachen Bauch und dachte an den Tag, an dem sie ihr Kind in den Armen halten würde. Sie seufzte, schloss die Augen und gab sich ihren Träumen hin.
Die Wirklichkeit sah weniger rosig aus. Der zweite Regieassistent, ein ungemein ambitionierter Mann namens Ben, kümmerte sich um den Fortgang der Dreharbeiten, während der erste Regieassistent ein paar Tage freigenommen hatte, um einige persönliche Angelegenheiten zu regeln. Bei Außenaufnahmen in Manhattan bestand Ben darauf, dass sie über eine schmale Planke rannte, die zwei Häuser verband, hinuntersprang und auf einem Dach mehrere Meter unter ihr landete. Sie würde nicht besonders tief fallen, und es war ziemlich unwahrscheinlich, dass sie sich dabei verletzte. Dennoch legte sie unwillkürlich die Hand auf ihren flachen Bauch, denn instinktiv spürte sie, dass das Risiko zu groß war.
“Ich kann das nicht tun”, sagte sie mit fester Stimme.
“Entweder du springst, oder du gehst”, entgegnete Ben kühl.
“Ich bin schwanger”, erklärte sie ihm. “Nimm ein Stunt-Double.”
“Kommt gar nicht in Frage. Das Budget ist ohnehin schon überzogen, und mein Job steht auf dem Spiel. Ich bezahle kein Stunt-Double. Das ist auch gar nicht nötig. Der Sprung ist absolut sicher.”
“Garantierst du mir, dass weder mir noch meinem Baby etwas passiert?”
“Wie oft muss ich dir das noch sagen? Es wird schon alles gut gehen”, erwiderte er barsch.
“Wenn du davon überzeugt bist …” Trotzdem machte sie noch einmal ihren Standpunkt klar. “Wenn mir oder meinem Kind irgendetwas geschieht, zahlst du bis an dein Lebensende dafür. Darauf kannst du Gift nehmen”, warnte sie ihn.
“Okay, wenn du meinst, dass du am längeren Hebel sitzt”, meinte er ironisch. “Erzähl das meinem Boss. Der ist ja gewohnt, mit Top-Stars zusammenzuarbeiten. Und jetzt mach voran!”
Sie ging zurück zum Set. Die Hektik und Aufregung um sie herum nahm sie überhaupt nicht wahr. Sie achtete weder auf den Kameramann noch auf den Tontechniker, die Maskenbildner und den Aufnahmeleiter. Sie dachte nur daran, was für sie auf dem Spiel stand, wenn etwas schiefginge. Cash wusste noch gar nichts davon. Sie würde es ihm sagen müssen, und sie musste auch mit Joel Harper über diesen arroganten kleinen Scheißkerl reden, der einen Job bei ihm ergattert hatte.
Aber fürs Erste konzentrierte sie sich darauf, die Szene zu beenden. Sie schloss die Augen, schickte ein Stoßgebet zum Himmel und bereitete sich auf den Sprung vor. Doch ohne ihre Brille unterschätzte sie die Entfernung, als sie sprang. Als sie landete, spürte sie einen stechenden Schmerz in ihrem Unterleib. Gellend schrie sie auf.
Sie konnte zwar gehen, aber Joel Harper, der gerade am Drehort eingetroffen war und sie schmerzverkrümmt vorfand, ließ sofort einen Krankenwagen rufen. Man brachte sie auf die Erste-Hilfe-Station, während Ben Joel klar zu machen versuchte, warum er auf dieser Aufnahme bestanden hatte. Ben und Joel fuhren mit ins Krankenhaus, und während sie im Wartezimmer der Notfallambulanz saßen, machte der Regisseur seinem zweiten Assistenten die heftigsten Vorwürfe.
“Sie ist schwanger, du Idiot. Warum, glaubst du wohl, habe ich sie in den vergangenen Wochen geschont?”, polterte Joel. “Wenn sie das Kind verliert, kann sie uns verklagen, und sie wird jeden Cent kriegen, den ich habe. Und sie wird recht bekommen. Du verdammter Schwachkopf!”
“Aber, Sir …”, protestierte Ben kreidebleich.
“Du bist gefeuert”, sagte Joel kalt. “Und du wirst nie mehr bei einem meiner Filme mitarbeiten. Verschwinde, und zwar auf der Stelle.”
Ben drehte sich um und verfluchte sich insgeheim. Allerdings verließ er den Aufenthaltsraum nicht, sondern wartete auf den Arzt, um zu hören, wie es Tippy ging.
Joel Harper musste sich lange in Geduld üben, ehe der Doktor kam, um mit ihm zu sprechen.
“Ist sie verheiratet?”, wollte der Arzt wissen.
“Nein”, antwortete Joel. “Sie hat einen kleinen Bruder …”
“Sie hat das Baby verloren”, schnitt ihm der Arzt das Wort ab. “Sie war in der sechsten Woche. Sie hat fast einen Nervenzusammenbruch erlitten. Ich habe ihr ein Beruhigungsmittel geben müssen.”
Joel
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