Wenn ich dich gefunden habe
empfindlich sein, wenn es um jüngere Männer ging. Seine liebste Frage lautete: »Wie alt würdest du mich schätzen? Ganz ehrlich, sag mir die Wahrheit, ich werde kein bisschen beleidigt sein.« Dara wusste nie so recht, warum er sie das fragte. Erstens
wusste sie bereits, wie alt er war, und Ian wusste, dass sie es wusste – er hatte es ihr selbst gesagt. Trotzdem wurde er des Spiels nie überdrüssig. Vielleicht, weil Dara stets behauptete, er sähe keinen Tag älter als vierzig aus, wobei er mit dem Glatzenansatz und dem Guinness-Bäuchlein, das ihn zwang, nach jedem Essen mit mehr als zwei Gängen den Gürtel weiter zu schnallen, definitiv eher wie die fünfzig aussah, die er war. Doch das behielt sie wohlweislich für sich. Sie wollte nicht der Überbringer einer Nachricht sein, die für Ian nicht bloß in die Kategorie »schlecht«, sondern vielmehr »grausam« fiel. Man mochte ihn eitel finden, aber Dara hatte die Verletzlichkeit hinter seiner Eitelkeit erkannt. Die Angst vor dem mittleren Lebensabschnitt. Sie konnte sich gut vorstellen, dass sie ähnlich empfinden würde, wenn es bei ihr einmal so weit war.
Sie erhob sich, stellte ihre Tasse auf der Anrichte ab, trat zum Fenster und griff nach dem Handy. Sie beschloss, ehrlich zu sein. Unbekümmert statt geheimnisvoll.
»Sory Ian, Donnerstag geht nicht. Muss spontan für 1 Tag n. Paris. Würde dich aber gern am Sa. sehen, falls du Zeit hast.«
Das klang höchst untypisch für sie, fand Dara, doch da ihr nichts anderes einfiel, drückte sie auf Senden und wartete ab.
Es kam sofort eine Antwort. »WOW! Klingt toll. Paris im Frühling. Mit wem fliegst du hin?«
Jetzt bereute es Dara zutiefst, dass sie Ian weder von Anyas verrückter Idee mit der Suche nach Mr. Flood erzählt hatte, noch von Stanley Flinter oder den überzeugenden Plänen ihrer einsiedlerisch veranlagten Nachbarin, die stets bekam, was sie wollte, einmal abgesehen von Manus MacBride, den sie am allermeisten gewollt hatte. Jede
weitere Erklärung – vor allem in Form einer SMS – würde zwangsläufig unglaubwürdig klingen.
Sie biss sich auf die Unterlippe und wählte seine Nummer.
Es klingelte dreimal, dann schaltete sich seine Mailbox ein. Seltsam, er hatte ihr doch gerade eine SMS geschickt. Sie begann mit einer Entschuldigung. »Hi, Ian. Tut mir echt leid. Ich hätte es dir schon eher erzählen sollen, wobei es eigentlich nicht viel zu erzählen gibt, aber es ist kompliziert. Na ja, nicht wirklich, aber zu kompliziert, um es dir auf Band zu sprechen. Können wir uns heute Abend treffen, damit ich dir alles erklären kann? Sagen wir, um acht im The Back Door? Oder lieber woanders? Vielleicht ein bisschen näher? … Ich weiß, das ist sehr kurzfristig, aber ich … Na ja, ich habe ein schlechtes Gewissen wegen Donnerstag. Könntest du dich kurz zurückmelden? Hier ist übrigens Dara. Dara Flood. Ich weiß nicht, ob ich das schon erwähnt habe. Okay, also … ich hoffe, wir sehen uns später. Oder hören uns. Bye.«
Zwei Minuten später eine kurze SMS: »OK.«
OK? Was hieß das nun? Dass er um acht ins The Back Door kommen würde? Dass er ihr nicht böse war, weil sie ihm ihre Reise nach Paris verschwiegen hatte? Der Tonfall verhieß nichts Gutes. Dara beschloss, ihn zu ignorieren.
»Super!! Bis nachher!!«
Sie sehnte sich nach Angel – nach der alten Angel. Angel hätte ihr einen Rat geben können, wie sie mit Ian umgehen sollte, was sie ihm sagen sollte. Dara wusste, dass sie im Umgang mit Menschen nicht besonders begabt war. Mit Hunden kam sie besser klar. Mit Lucky zum Beispiel. Er hatte sie gestern angelächelt, als sie ihm eines ihrer Hundehaferplätzchen gebracht hatte, die im Großen und Ganzen
wie normale Haferplätzchen waren, aber etwas weniger Zucker und Sirup und etwas mehr Haferflocken enthielten. Tintin hatte natürlich behauptet, es sei eher eine Grimasse als ein Lächeln gewesen, aber Dara war ziemlich sicher, dass sie recht hatte.
Mit Menschen war es schwieriger. Die alte Angel hätte Tee gemacht und eine Packung Kokosschaumküsse geöffnet, wenn Dara ihr von Ians gereizt klingenden Nachrichten erzählt hätte, und dann hätte sie gelächelt und gesagt: »Nimm dir das doch nicht so zu Herzen.«
Aber Angel war bei der Dialyse, und selbst wenn sie hier gewesen wäre, hätte sie in ihrem Zimmer gehockt, damit beschäftigt, eine andere zu sein. Dara verdrängte den Gedanken. Bis jetzt hatte sie stets angenommen, dass die alte Angel zurückkommen würde.
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