Wenn keiner dir glaubt: Thriller (German Edition)
Attraktivität, die ihre prominenten Männer ausstrahlten, mit dem Leben bezahlten.
9
Anya schaltete das Mikro ab und legte die DVD mit den nachgestellten Szenen von Vergewaltigungen in den Computer ein.
Ethan Rye beugte sich über das Sprecherpult, die Hände in den Hosentaschen. »Bitte sagen Sie mir, dass das erste Bild am Computer entstanden ist.«
»Leider nein. Man kann sich nicht oft genug klarmachen, dass das ein Mensch ist, der Familie und Freunde hat.«
»Apropos Freunde, da ist jemand, der Sie kennenlernen möchte.«
Anya konnte es nicht erwarten, der Frau zu begegnen, mit der sie den nächsten Vortrag bestreiten würde. Sie ließ den Computer stehen und lief durch die Flügeltür. Am Kaffeetisch stand Linda Gatby, die sie vom Autorenfoto ihres Buches wiedererkannte.
Linda war größer, als Anya erwartet hatte, sie trug ein lindblaues Kostüm, eine cremefarbene Bluse und moderate Absätze. Die Farbwahl passte zum blonden Haar und den hellblauen Augen.
Zur Begrüßung nahm sie Anya in den Arm. »Ich freue mich so, dich endlich zu treffen. Es kommt mir vor, als würden wir uns ewig kennen!«
Auf diese Herzlichkeit seitens der stellvertretenden Bezirksstaatsanwältin war Anya nicht gefasst. Im Schriftverkehr hatte sie sich stets professionell und zurückhaltend gegeben. Strafverteidiger monierten häufig ihre Gefühlskälte, hieß es. Andererseits war das natürlich genau das Bild, das die Medien bevorzugt von Frauen mit Macht und Einfluss vermittelten, und Linda war federführend dafür verantwortlich, dass bei der New Yorker Polizei eine eigene Kommission eingerichtet wurde, die sich nur mit der Aufklärung und Verfolgung von Sexualverbrechen befasste.
»Danke für die freundliche Empfehlung«, erwiderte Anya verlegen.
Linda trat ein Stück zurück, hielt Anya aber an den Ellenbogen fest. »Du hast mir mit deinen Gutachten so oft weitergeholfen, dass ich keine Sekunde gezögert habe, als Catcher mich um meine Mithilfe bat und fragte, ob ich dich kenne. Und überhaupt, wie hätte ich es sonst zuwege gebracht, dass wir einmal am selben Ort zusammenkommen?« Sie grinste breit.
»Catcher?«, staunte Anya.
Ethan hob den Zeigefinger. »Das bin ich.«
»Das hängt nicht zufällig mit dem Roman von J. D. Salinger zusammen?«
Er schien aufrichtig beeindruckt. »Meistens vermuten die Leute, dass ich mal Baseball gespielt habe.«
Er ging an einen langen, von Sportlern umschwärmten Tisch. Vermutlich war dort das Büfett. Eine Kellnerin mit heißen Snacks kam nicht einmal in die Nähe des Tisches, ehe ihr Tablett geplündert war.
Linda schenkte sich einen Kaffee ein, Anya nahm Tee. Sie standen etwas abseits, um ungestört reden zu können.
»Ich habe mich etwas verspätet, weil es gestern Nacht in einem Hotel in der Nähe einen Übergriff gab. Es deutet einiges darauf hin, dass mehrere hier anwesende Spieler an einer Gruppenvergewaltigung beteiligt waren. Ich hätte gerne deine Meinung zu den Untersuchungsergebnissen des Opfers gehört, einer jungen Frau namens Kirsten Byrne, sofern du es irgendwie einrichten kannst.«
Anya betrachtete die Gruppe. »Wie geht es dem Opfer?«
»Sie ist stark traumatisiert. Das Problem ist, sie hat es nicht gleich gemeldet. Der Anruf hat mich eben erst erreicht. Die Notaufnahme hat die Vergewaltigung nach Vorschrift protokolliert, aber sie hatte zuvor geduscht und sich die Haut mit einem Scheuermittel wundgeschrubbt.«
Anya hatte Mitleid mit der Frau. Der Wunsch, alle Spuren des Übergriffs vollständig abzuwaschen, war eine gängige Reaktion auf eine Vergewaltigung. Sie fragte sich, wie viele forensische Spuren dabei vernichtet worden waren.
Anya ließ den Blick über die Männer schweifen, die aßen, lachten und kübelweise koffeinhaltige Zuckerplörre in sich hineinschütteten wie Wasser. Auf einmal konnte sie nachvollziehen, wie sich die Liliputaner in Gullivers Reisen gefühlt haben mussten.
Anya wusste, dass sämtliche Clubs der Liga Spieler zu diesem Lehrgang entsandt hatten. Sie fragte Linda, welche Mannschaften in dem Hotel einquartiert waren, in dem es zu der mutmaßlichen Straftat gekommen war.
»Die Spieler, die Kirsten genannt hat, sind bei den New Jersey Bombers.«
Anya sah sich um. Keiner hier wirkte nervös oder beängstigt. Nichts deutete darauf hin, dass einige der Anwesenden vor Kurzem ein Verbrechen begangen haben könnten. Sie beschloss, die Augen nach Kratzspuren an den Händen und Unterarmen offen zu halten, möglichen Hinweisen, dass das
Weitere Kostenlose Bücher