Wenn keiner dir glaubt: Thriller (German Edition)
einem Soldaten gemacht, der sich verweigert hätte, weil er Frauenraub für ein Unrecht hielt? Gruppen, Religionen, Regierungen, Stämme, selbst Familien biegen sich die Moral so zurecht, wie sie es gerade brauchen. Das war schon immer so und wird immer so sein.«
»Teams haben Sie in Ihrer Aufzählung vergessen«, fügte sie spitz hinzu. »Gleichzeitig kann eine solche Gruppe aber auch ein Gemeinschaftsgefühl schaffen, in dessen Namen man sich für ein höheres Gut einsetzt.«
»Beziehungsweise für das, was einem der Anführer als das höhere Gut vorgaukelt.«
Sie kam mehr und mehr zu dem Schluss, dass Ethan Rye ein Einzelgänger war.
»Meinen Sie nicht, dass die Leute ab und zu das Bedürfnis haben, irgendwo dazuzugehören? Gleichgesinnte zu finden, denen man sich verbunden fühlt und denen man vertraut? Im Flugzeug haben Sie erzählt, dass Sie die Philosophie des Footballs unterstützen, benachteiligten Jugendlichen Hoffnung zu geben.«
Anyas Blick schweifte durch den Saal. Eine Jugendliche auf einem Klapphocker machte eine Kohleskizze. Ein älteres Paar lief mit dem Audioguide am Ohr die Wände ab, und ein Paar Mitte zwanzig, beide ganz in Schwarz, schien mehr am Gegenüber als an der Kunst interessiert.
»Gemeinschaftsgefühl wird gerne überschätzt und kann hochgradig destruktiv wirken. Sagt Ihnen das Milgram-Experiment etwas?«
Sie hatte von dem berühmten Versuch gelesen, wissenschaftlich zu erklären, weshalb ganz gewöhnliche Menschen sich an den furchtbaren Verbrechen der Nazis in Deutschland beteiligt hatten. Bei dem Experiment wurden Freiwillige einer Autoritätsfigur in weißem Kittel ausgesetzt. Die Freiwilligen wurden aufgefordert, einer Person in einem anderen Zimmer, die sie hören, aber nicht sehen konnten, Fragen zu stellen. Eine falsche oder ausbleibende Antwort hatte einen elektrischen Schlag zur Folge, der mit jedem Mal stärker wurde. Trotz der hörbaren Schmerzensschreie und Proteste der Person im Nebenzimmer hätten zwei Drittel der Freiwilligen das Experiment fortgeführt und schließlich tödliche Stromschläge verabreicht. Selbstverständlich waren die Stromschläge ebenso wie die Schreie nur simuliert, doch das erfuhren die Probanden erst nach dem Experiment. Der beängstigende Schluss war, dass die Probanden allen Vorbehalten zum Trotz weitermachten, wenn die Autoritätsperson sie dazu aufforderte.
»Welcher Theorie hängen Sie an? Dass die Teilnehmer sich unfähig fühlten, das Endergebnis zu beeinflussen, sie die Verantwortung für ihr Handeln also abgaben, oder dass sie überzeugt waren, was der Experte sagt, muss richtig sein, auch wenn sie selbst ihre Zweifel hatten?«
»Weder noch. Ich glaube, das Problem war, dass sie die Person, der sie die Stromschläge verabreichten, nicht als Mensch wahrnahmen. Wenn sie schließlich doch realisierten, dass sie einen anderen schwer verletzen oder gar umbringen konnten, waren sie nur selten stark genug, sich der Autorität zu widersetzen. Ich glaube, dasselbe passiert auch bei Gruppenvergewaltigungen. Einer fängt an, und dann macht ein Zweiter einfach aus Lust und Laune mit.«
»Und die Übrigen?«
»Das sind die kritiklosen Mitläufer aus dem Milgram-Experiment. Aber ich wette, dass immer welche darunter sind, die ein schlechtes Gewissen haben, weil sie sich nicht gegen die Autoritätsperson gestellt haben. Unsere Aufgabe ist es, den Spieler zu finden, der dem Anführer im Hotelzimmer gefolgt ist, deswegen aber Gewissensbisse hat. Denjenigen, der in Zukunft nicht mehr am Hebel ziehen wird.«
18
Anya lief neben Ethan durch den Tunnel ins Stadion ein und auf die Mannschaftsbank zu. Im Gegensatz zu den vergangenen, eher kühlen Tagen war es heiß geworden. Die Sonne knallte auf das Spielfeld, und die Luft war schwül und feucht. Sie schälte sich aus der Jacke und bedauerte es, lange Hosen angezogen zu haben.
»Wenn Sie was Kaltes trinken wollen, bedienen Sie sich«, sagte Ethan, als habe er ihr Unwohlsein bemerkt. Neben der Bank stand eine große, mit Eis gefüllte Wanne voller Energydrinks.
Die Bombers wärmten sich auf dem Spielfeld auf, und langsam füllten sich die Zuschauerränge. Entlang der Seitenlinien standen Frauen, manche in Bikinioberteilen und Shorts, die Schilder mit den Namen der Spieler hielten.
Nun kam Gavin Rosseter, der mit Polohemd und Hose in den Mannschaftsfarben der Bombers wie ein Mitglied des Teams aussah. Er nickte Anya zu, ehe er sich mit angespannter Miene mit einem Spieler unterhielt. Der Sportler
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