Wenn Liebe die Antwort ist, wie lautet die Frage? - Lilias Tagebuch
Wackelzahn, auf den ich sehr stolz war. Er hat sich entzündet und musste vom Zahnarzt gezogen werden. Und in der Praxis ist er dann auch noch runtergefallen und ich habe ihn nicht wiedergefunden. Ich hatte also nicht mal eine Trophäe. Ja, und an meinem ersten Schultag bin ich beim Verlassen des Hauses mit der Schultüte an der Haustür hängen geblieben und sie ist zerrissen. Ich war in meiner Klasse das einzige Kind, das mit einer leeren, geklebten Schultüte eingeschult wurde. Die ganze Zeit hatte ich Panik, weil ich dachte, ich würde rausfliegen, wenn das jemand merkt.«
»Oooh!« Dana heuchelte Mitleid. Ihre Stimme klang etwas undeutlich, denn sie steckte gerade mit dem Kopf in ihrem Kleid, irgendwie hatte sie sich dort verhakt. Zur Rache half ich ihr nicht raus. Sollte sie doch da drinnen grinsen!
»Das war noch nicht alles. Weiter mit den verpatzten ersten Malen. Meine erste Fahrradtour endete an der Kühlerhaube des nagelneuen Autos unserer Nachbarn. Und kurz vor meinem ersten Kuss hat meine Mutter im Garten eine Falle aufgebaut, in der Nacktschnecken mit Bier angelockt wurden. Als Paul Adebar mich dann eines Abends endlich, endlich küsste, hatte er vorher Bier getrunken und seine Zunge erinnerte mich plötzlich an die Nacktschnecken in der Falle. Mir wurde schlecht.«
»Ääääh, hör auf«, ächzte Dana.
»Ja, ja, ja, ich wollte ja nur sagen, dass ich an meinen ersten Ball nicht mit überhöhten Erwartungen herangehe. Der perfekte Moment, wie man ihn aus Filmen kennt, ist doch leider eher selten. Im Film wird spätestens beim Abschlussball aus jedem hässlichen Entlein ein bezaubernder Schwan. Die Heldin schwebt dann am Arm des bestaussehenden Jungen in den Ballsaal und alle drehen sich nach ihr um, aber sie sieht nur ihn. Dann spielen Geigen und plötzlich versinkt alles um sie herum, der Ballsaal, die Menschen, die Lichter, da ist dann nur noch ein Sternenhimmel über ihnen und leise Musik. Und sie küssen sich und dann kommt der Abspann.«
»Schööön!« Dana seufzte hingerissen.
»Träum ruhig weiter«, sagte ich. »Aber das Erwachen wird hart. Anderes Beispiel: erster Sex. Da denkt man an Kerzenlicht, seidene Kissen und sanfte Musik, an Küsse und tiefe Blicke und süße Verschmelzung. Aber wenn’s dann in echt so weit ist, fragt man sich bestimmt dauernd Sachen wie: Bin ich schön genug? Habe ich an den falschen Stellen Körperhaare? Sind meine Eltern auch wirklich weg oder kommen sie früher zurück und platzen hier rein? Und hoffentlich klappt es mit der Verhütung. Wie romantisch!«
»Wo wir gerade beim Thema sind …«, sagte Dana.
17.00 Uhr Ich fasse es nicht! Ich sitze im Wartezimmer einer Frauenärztin. Ich!!! Und ich weiß nicht, wie ich gucken soll.
Irgendwie habe ich das Gefühl, dass mich alle anstarren und darüber nachdenken, ob ich schon Sex hatte.
Ich versuche, so auszusehen wie jemand, der nur zur Begleitung hier ist. Am liebsten würde ich mir ein Schild umhängen, auf dem das steht. Aber damit würde ich ja nur erreichen, dass die Leute noch mehr über mein Sexleben nachdenken. Sie wüsstendann, wie unerfahren ich bin. Also versuche ich vielleicht doch lieber, so auszusehen wie jemand, der schon oft hier war.
Hmmm. Hier ist kein Spiegel, aber allein so vom Gefühl her befürchte ich, dass sich diese beiden Gesichtsausdrücke nicht wirklich unterscheiden. Vermutlich sehe ich in Wahrheit schon die ganze Zeit so aus, als wollte ich überhaupt nicht hier sein. Was ja auch stimmt.
Immer wenn die Tür aufgeht und eine neue Patientin hereinkommt, halte ich mir mein Tagebuch vors Gesicht, weil ich panische Angst habe, dass es jemand sein könnte, der mich kennt. Vielleicht wieder eine Nachbarin meiner Eltern, die nachher meinen Vater fragt, was denn das Töchterchen bei der Frauenärztin wollte. Oh Gott, wenn das passiert, bekommt Paps garantiert einen Herzinfarkt.
Dabei sollte er eigentlich froh und dankbar sein, dass ich hier bin. Ohne mich hätte Dana sich nie in die Praxis getraut. Und dann wäre er vielleicht schon bald OPA .
Dana will sich nämlich die Pille verschreiben lassen. Ich habe natürlich keine Fragen gestellt, aber das war auch gar nicht nötig. Ist ja klar, was sie plant.
Boah, überall Babys. An dem Thema kommt man hier echt nicht vorbei. An allen Wänden hängen Fotos von dicken und dünnen, schwarzhaarigen oder glatzköpfigen, lächelnden oder sabbernden Babys. Und alles hier ist rosa und hellblau, die Garderobe, die Stühle, die Bilder an der
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