Wenn nicht jetzt, wann dann?
damit sie nicht klar geradeaus gucken können …«
»Annemie!«, rief Waltraud, »Was ist denn passiert?«
»Weißt du«, sagte Annemie und klang fast wieder wie sie selbst. »Ich bin froh, wenn dieser ganze Hochzeitswahn hier vorbei ist. Morgen kommt Liz nach Hause, dann helfe ich ihr beim Nötigsten. Und dann höre ich auf. Und mit dem Backen höre ich auch auf. Blödes Kuchenbacken. Widerliches, süßes Zeug. Ich sage dir jetzt etwas, Waltraud: Das Leben ist so bitter, wie es ist. Da hilft auch kein Kuchen.«
Damit ließ sie Waltraud stehen, die ihr fassungslos nachstarrte, und ging schnurgerade auf ihre Haustür zu. Sobald sie die Wohnungstür hinter sich geschlossen hatte, begann sie so sehr zu zittern, dass sie kaum den Reißverschluss ihres Kleides öffnen konnte, das sie ganz schnell ausziehen musste, überhaupt musste sie auch die Schuhe und die Strümpfe ganz schnell ausziehen, um die Vorhänge zu schließen und sich am hellen Nachmittag ins Bett zu legen, sich die Decke über den Kopf zu ziehen und zu hoffen, dass das Zittern doch irgendwann aufhören möge, irgendwann bald, bitte. Bitte.
Annemie schlief den ganzen Nachmittag, den ganzen Abend und die ganze Nacht. Als sie am Morgen aufwachte, hatte das Zittern zwar aufgehört, doch das Gefühl der Leere, das sich in ihr ausgebreitet hatte, war noch da. Am liebsten wäre sie einfach liegen geblieben, hätte sich die Decke wieder über den Kopf gezogen und sich versteckt. Wie hatte sie nur denken können, dass sie etwas bewirken könnte bei den Brüdern Winter? Wie hatte sie glauben können, gerade sie wäre fähig, große Versöhnungen in die Wege zu leiten? Gerade sie, die in Gefühlsdingen so ungeübt war!
Sie schaute unter der Decke hervor und sah zum Fenster, wie sie das seit zweiundvierzig Jahren von diesem Platz aus jeden Morgen tat, und sie erkannte sehr deutlich, dass sie diese Ansicht in den letzten zwei Wochen aus einer gänzlich anderen Stimmung heraus wahrgenommen hatte. Gestern noch war sie so erwartungsvoll aufgestanden, sie hatte gelächelt, sie hatte sich auf den Tag gefreut. Sie wollte vor Scham versinken, wenn sie daran dachte. Claus Winter war so charmant gewesen, dass sie sich gefühlt hatte wie eine Prinzessin. Und Hannes Winter. An ihn zu denken tat besonders weh. Sie hatte sich so gut gefühlt, so besonders. Wie eine Figur aus ihren Liebesromanen. Heute fühlte sie sich wieder wie das, was sie in der wirklichen Welt war: die Magd. Unfähig, auch nur den einfachsten Auftrag auszuführen.
Annemie dachte nach, wie sie wohl diesen Tag überstehen könnte. Welch furchtbare Aufgaben heute auf sie warteten! Sie musste Claus Winter anrufen und ihm von dem gestrigen Tag berichten. Sie würde es Liz erzählen müssen, wenn sie wieder zu Hause war, und sie würde ihr auch sagen müssen, dass sie nicht mehr backen würde. Keinen Erdbeerkuchen, keine Hochzeitstorten. Nichts. Nie mehr. Sie würde sich mit Nina treffen müssen, die noch einmal nach einem Brautkleid schauen wollte, um sich zu verabschieden. Ja, das würde sie tun müssen. Das gehörte sich so. Danach würde sie Nina und Fabian alleine zu dem Traugespräch mit dem Pfarrer schicken, das würden die beiden auch ohne sie schaffen. Die beiden würden sowieso alles auch ohne sie schaffen. Sie war ja ohnehin zu nichts nutze. Annemie seufzte. Welch schwerer Tag ihr da bevorstand. Müde hob sie ihre Beine aus dem Bett und stand auf.
Die Blumen, die in der Küche standen, schienen sie zu verhöhnen, es war ein Strauß aus Frühlingsakelei, Vergissmeinnicht und Tränenden Herzen. Sie waren noch nicht komplett verblüht, aber manche der Tränenden Herzen sahen schon so traurig und verschrumpelt aus, wie ihres sich anfühlte. Und sie nahm sie und warf sie in den Mülleimer. Den Strauß im Wohnzimmer wollte sie ebenfalls wegwerfen. Sie hielt ihn schon in der Hand, als sie sah, dass die Rosenknospen gerade dabei waren, sich zu öffnen. Der Gedanke an den Vormittag im Rosenbeet trieb ihr die Tränen in die Augen, und sie brachte es nicht übers Herz, die Blumen zu beseitigen, und stellte sie zurück in die Vase.
Frau Schwarz begrüßte Nina und Annemie wie alte Bekannte und führte sie wieder in den gleichen Raum, in dem Nina schon letzte Woche Brautkleider anprobiert hatte. Auch Frau Heckmann stand bereit und fragte, was sie den Damen anbieten könnte.
»Heute trinken wir gerne mal ein Schlückchen Sekt, oder?«, sagte Nina und blickte fragend zu Annemie.
»Ist Ihnen das recht? Ich
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