Wenn nur dein Lächeln bleibt
ausgepustet hatte, beschloss ich, wieder zu arbeiten. Das war in der DDR so üblich. Das Babyjahr war zu Ende, außerdem sehnte ich mich wieder nach sozialen Kontakten. Zum schmierigen Heidemechels wollte ich nicht zurück. Da wir Sabine jetzt in einer Kinderkrippe in der Nähe untergebracht hatten, schaute ich mich in unserem Stadtteil nach einer neuen Stelle um. Zwei Gehminuten von unserer Wohnung entfernt war ein neuer Büroblock aus dem Boden gestampft worden. Das Firmenschild wies auf eine soziale Einrichtung hin. »Produktionsgenossenschaft des Blindenhandwerks« stand darauf. Mein Herz machte fast einen Purzelbaum: »Wir stellen neue Mitarbeiter ein!«
Kurz darauf hatte ich den Job als Abteilungsleiterin der Verwaltung. Ich lernte sehgeschädigte und blinde Menschen kennen und erledigte meine Aufgaben mit großem Engagement und sehr viel Freude. Die Menschen, die mir anvertraut waren, spürten ganz genau, dass ich wusste, was es bedeutet, behindert zu sein und von der Gesellschaft ausgegrenzt zu werden. Ich fand große Erfüllung im Beruf.
Aber der Stress wurde natürlich nicht weniger. Wir standen morgens um fünf Uhr früh auf, jeder zog ein Kind an, dann brachte Bernd Anja in ihre Behinderteneinrichtung und ich Sabine in die Kinderkrippe. Um Viertel vor sieben waren wir beide an unserem Arbeitsplatz. Um sechzehn Uhr kam ich mit Sabine nach Hause, kurz darauf brachte Bernd mir Anja. Während er anschließend oft noch bis 22 Uhr Kundenbesuche machte, blieb mir der Haushalt mit zwei kleinen Kindern. Aber ich genoss meine Mäuse, besonders als Sabine anfing zu sprechen.
Sabine fing irgendwann an zu begreifen, dass ihre große Schwester anders war. Doch was in Wahrheit eine große Einschränkung war, empfand sie oft als Privileg:
»Warum darf die in die Hose machen, und ich muss aufs Töpfchen?«
»Musst du nicht, Sabine. Du darfst gern wieder in die Hose machen.«
Ich legte der Vierjährigen erneut Windeln um, und nach zehn Minuten hatte sich die Diskussion erledigt.
»Warum kriegt die immer alles in den Mund geschoben, und ich muss den Löffel selber halten?«
Ich fütterte Sabinchen wie ein Baby, und bald darauf war ihr die Lust vergangen.
»Wieso darf die schreien und quietschen, und ich muss leise sein?«
Ich ließ Sabine schreien und quietschen, bis sie die Sache albern fand.
»Warum soll ich das Zimmer aufräumen und Anja nicht?«
Ich machte Sabine klar, dass Anja ihr bei dieser wichtigen Aufgabe zuschauen und sie dabei sehr bewundern würde.
»Wieso muss ich Hausaufgaben machen, und Anja darf immer nur faul rumsitzen?«
Hier zogen schon die Argumente der Vernunft: »Du wirst lesen, schreiben und rechnen können. Du wirst später selbstständig sein und einen Beruf ergreifen – alles Dinge, die Anja nie lernen wird.«
»Und warum?« Ungläubig blickte mich meine kleine Tochter an.
»Weil die im Krankenhaus einen Fehler gemacht haben.«
»Wenn ich groß bin, werde ich Krankenschwester, und dann werde ich Anja reparieren.«
Welch großartige Ideen sich doch in einer Kinderseele entwickeln können!
Eines Tages klingelte es an der Wohnungstür, und ich öffnete arglos: Ein nettes kleines Mädchen stand auf der Matte, mit Schleifchen im Haar.
»Ist Sabine zum Spielen da?«
»Hallo!«, sagte ich freundlich. »Ja, gern, komm doch rein. Sie ist gerade im Bad, ich hole sie!«
Das Mädchen trat schüchtern ins Wohnzimmer und sah Anja, die wie immer verkrümmt in ihrem Rollstuhl saß. Sie hatte mit aufgeregtem Jauchzen und Quietschen auf die Türklingel reagiert. Jetzt fuchtelte sie mit den Armen, verdrehte den Kopf und versuchte, den neuen Gast zu erspähen. Vor Begeisterung hatte sie den Mund weit aufgerissen.
Dieser Anblick schockierte das arglose kleine Mädchen derart, dass es stammelte: »Ich glaube, ich muss erst mal meine Mutti fragen, ob ich hier sein darf!«
Sie machte auf dem Absatz kehrt und trappelte so schnell aus unserer Wohnung, dass ihre blank geputzten Schühchen Funken schlugen. Das Mädchen kehrte natürlich nicht zurück. Ich war entsetzt.
Sabine, die gerade erwartungsfroh aus dem Bad kam, um ihre neue Schulfreundin zu begrüßen, sah mich fassungslos an. »Du blöde Mama!«, schrie Sabine. »Das war meine LIEBLINGS freundin! Jetzt will die in der Schule bestimmt nicht mehr neben mir sitzen!«
»Aber Sabine, hätte ich Anja denn in der Rumpelkammer verstecken sollen?«
»Das ist mir EGAL !«, schrie Sabine trotzig und knallte wütend die Kinderzimmertür hinter sich
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