Wenn nur dein Lächeln bleibt
die Tasse an den Mund gesetzt, klingelte bei meiner Schwester schon das Telefon.
Mir blieb schier das Herz stehen, als ich Sabines aufgeregte helle Kinderstimme vernahm: »Anja ist mit dem Rollstuhl umgekippt!«
Klirrend setzte ich die Kaffeetasse ab und rannte nach Hause. Dort lag Anja mitsamt dem Rollstuhl auf dem Rücken und lachte sich kaputt. Durch die Kopfstütze hatte sie sich nicht wehgetan, sie fand die Situation einfach nur lustig. Sabine war in heller Panik. Sie hatte versucht, den Rollstuhl wieder aufzurichten, aber mit ihren dünnen Ärmchen klappte dieser Kraftakt noch nicht.
Wieder war ich von Schuldgefühlen geplagt und vergaß ganz zu schimpfen, denn wer, wenn nicht Sabine, hatte Anja wohl in diese Lage gebracht?
24
» B ernd! Komm mal schnell!«
»Was gibt’s? Ich bade gerade die Anja!«
»Die Grenzen sind offen!« Ich saß vor der Aktuellen Kamera, es war der 9. November 1989. Genscher hatte bereits die berühmten Worte auf dem Balkon der deutschen Botschaft in Prag gesagt: »Wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise …« Der Rest war in frenetischem Jubel untergegangen. Und jetzt gab Schabowski unerwarteterweise in der Aktuellen Kamera die Grenzöffnung bekannt.
Mit offenen Mündern starrten wir auf die Mattscheibe.
Bernd hielt die nasse Anja in ein Handtuch gewickelt im Arm. Ganze Kolonnen von Trabis schoben sich mit freudigem Gehupe und Triumphgeschrei in Richtung Berlin.
»Sie zahlen jedem Neuankömmling hundert Westmark!«
»Du, nimmst du sie? Ich würde so gern dabei sein an diesem denkwürdigen Tag.« Bernd kramte schon nach den Autoschlüsseln. »Ist das in Ordnung für dich?«
»Aber ja!« Aufgeregt rubbelte ich Anja trocken, die jauchzte und lachte, als hätte sie die politischen Verhandlungen höchstpersönlich geführt.
Noch am Nachmittag hatte Bernd mit seinem Schwager an unserem Auto herumgebastelt, und so reihten sich die beiden Männer begeistert in die endlose Wagenkolonne nach Berlin ein.
Es gab ein Hupen und Winken, Umarmungen auf offener Straße, Sektflaschen wurden geköpft, man tanzte, sang und schunkelte – es war eine Stimmung wie an Karneval, nur ohne Verkleidung.
Die Kinder und ich sahen uns die Szenen im Fernsehen an, und ich konnte gut verstehen, dass die Männer mittendrin sein wollten. Sie fühlten sich wahrscheinlich wie Cowboys, die auf neues Terrain vordringen. Doch nach einer Stunde waren meine Helden schon wieder zurück: Na toll, die Cowboys hatten keine frischen Gäule genommen. »Benzin war alle.«
»Und warum habt ihr nicht getankt?«
»Du kannst dir nicht vorstellen, was an den Tankstellen los ist!«, rief Bernd. »Die Autoschlangen gehen bis Pritz an der Knatter!« So begeistert hatte ich ihn schon lange nicht mehr erlebt. »Aber macht nichts: Wir haben ja volle Kanister in der Garage!«
Die beiden Cowboys ritten erneut von dannen und schwangen schon voller Vorfreude das Lasso.
Noch einmal sah ich sie vom Fenster aus mit dem kleinen Trabi vom Parkplatz fahren. Noch einmal reihten sie sich in die Kolonne in Richtung Westen ein, wobei sie eine dicke Staubwolke hinterließen. Wie im richtigen Western eben.
Am nächsten Tag kamen sie völlig übermüdet, aber glücklich zurück. Aufgeregt berichteten sie, was sich zugetragen hatte: Ausgerechnet ihr Fahrzeug war aus der endlosen Schlange gewinkt worden!
»Wo möchten die Herren denn hin?«, hatte ein Verkehrspolizist gefragt und seinen Schreibblock gezückt.
»Na, Sie scherzen wohl! Dahin, wo alle hin wollen! Nachm Westen!«
»Und wo kommen Sie her?«
»Das sehen Sie doch!«, rief Bernd erstaunt. »Aus Halle. Steht doch auf den Nummernschildern!«
»Ich sehe keine«, sagte der Polizist und ging einmal um das Auto herum.
Da hatten die beiden Herren vor lauter Aufregung gleich zweimal vergessen, die Nummernschilder wieder anzuschrauben!
»Wie gut, dass ihr eure Köpfe nicht in der Garage liegen gelassen habt!«, sagte ich lachend, und dann köpften wir eine Flasche Rotkäppchen-Sekt.
D och nach der ersten Euphorie über die Wiedervereinigung kam für uns ein herber Schlag: Wir wurden beide arbeitslos. Die reinste Katastrophe! Aber wir hatten schon so vieles geschafft, da würden wir diese Situation auch noch meistern.
Ich begann ein Zusatzstudium der Informatik, und Bernd wagte den Sprung in die Selbstständigkeit. Er gründete eine eigene Firma, schuftete Tag und Nacht, ja fuhr sogar für ganze Wochen auf Montage.
Ich lernte und büffelte, wenn die
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