Wenn tausend Sterne fallen: Roman (German Edition)
ihr das die einzig plausible Erklärung zu sein.
Sie setzte all ihre Hoffnungen in Alberts Anwalt. Mavis hatte ihr seine Adresse in Falmouth genannt, und Daisy wollte ihn am nächsten Tag aufsuchen.
»Es war fast wie in alten Zeiten, wenn Ellen zu Besuch kam«, bemerkte Mavis. Ihre Stimme klang verdächtig brüchig. »Ich habe mich in Ihrer Gesellschaft sehr wohl gefühlt, so wie damals mit ihr.« Sie betrachtete Daisy nachdenklich. »So ähnlich sind Sie Ellen gar nicht. Es waren nur die Haare, die mich zuerst irritiert haben. Sie haben blaue Augen, Ellen hatte braune, und Sie sind viel direkter, zugänglicher. Aber Sie hatten natürlich auch ein anderes Elternhaus und Privilegien, die Ellen nicht hatte. Und Sie sind eine sehr moderne junge Frau – Ellen war altmodisch, selbst in Ihrem Alter schon.«
Daisy kam plötzlich zu Bewusstsein, dass sie keine Vorstellung davon hatte, wie Ellen aussah, während Josies Bild sich so fest in ihr Gedächtnis eingebrannt hatte, als hätte sie sie persönlich gekannt.
»Da fällt mir ein, haben Sie ein Foto von Ellen?«
»Nur ein einziges«, antwortete Mavis mit einem Blick zur Anrichte. »Ich hatte es immer dort stehen, aber vor ein paar Jahren hab ich es weggeräumt. Es machte mich nur traurig. Seltsam, dass ich gestern nicht daran gedacht habe, es Ihnen zu zeigen.«
Sie kramte in den Schubladen. »Hier ist es.« Sie hielt ein Farbfoto in einem Silberrahmen in der Hand. »Frank, mein Mann, hat es im Garten aufgenommen. Wir haben es vergrößern lassen, weil es so ein hübsches Bild ist.«
Daisy betrachtete es eingehend. Ellen saß auf einer Bank, im Hintergrund war ein von weißen Rosen umrankter Bogen zu sehen. Sie trug ein braves Kattunkleid mit rundem Ausschnitt und Rüschenbesatz am Saum. Es sah wie eins dieser Laura-Ashley-Modelle aus, die Daisys Mutter in den Siebzigerjahren getragen hatte.
Ellen hatte eine verblüffende Ähnlichkeit mit Josie. Hätte sie nicht dieses züchtige Kleid getragen und die Haare streng aus dem Gesicht gekämmt, hätte man sie für das um einige Jahre gealterte Model halten können. Sie hatte den gleichen feinen Knochenbau und die gleichen großen, ausdrucksvollen Augen. Nur ihr Lächeln war anders. Auf allen Pressefotos zeigte sich Josie mit einem strahlenden Lächeln, das ihre Extrovertiertheit demonstrierte. Ellen dagegen lächelte schüchtern, als müsste sie sich dazu überwinden. Sie machte irgendwie den Eindruck, als hätte sie die ganze Welt gesehen und wäre von ihr enttäuscht.
Daisy erkannte in diesem Gesicht ihr eigenes wieder, nicht in den glücklichen Augenblicken, sondern in jenen, in denen die ganze Welt gegen sie zu sein schien. War es das, was Ellen gefühlt hatte?
»Wann ist das Foto aufgenommen worden?«, fragte sie.
»Im Sommer vor der Brandkatastrophe«, antwortete Mavis. »Ellen war damals einunddreißig, es muss im Juni gewesen sein, weil die Rosen in voller Blüte stehen. Ich erinnere mich, dass sie an dem Tag von Ihnen sprach. Sie hätten vor kurzem Ihren vierzehnten Geburtstag gefeiert, sagte sie. Sie hoffte, Sie nähmen Ballettunterricht oder wären eine Pferdenärrin, weil Sie nun in einem schwierigen Alter seien. Mädchen mit einem Hobby gerieten nicht so häufig in Schwierigkeiten wie andere, meinte sie.«
»Ich hab damals viel geturnt«, erklärte Daisy gedankenverloren. »Was sie wohl dazu gesagt hätte?«
»Das hätte ihr bestimmt gefallen.« Mavis trat auf sie zu und umarmte sie. »Auf eine Tochter wie Sie kann man nur stolz sein. Ich hoffe, Sie finden Ellen, das würde ihr Leben vollständig umkrempeln.«
Daisy drückte Mavis fest. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, und die Rührung schnürte ihr die Kehle zu. Mavis’ Worte hatten sie an Lorna erinnert. Mavis hätte ihr gefallen, die beiden Frauen waren einander sehr ähnlich.
»Sie sind ganz wundervoll gewesen«, flüsterte sie mit erstickter Stimme, »so lieb, so verständnisvoll. Selbst wenn ich Ellen nicht aufspüren sollte, so ist mir jetzt vieles klarer geworden. Und das habe ich nur Ihnen zu verdanken.«
Mavis ergriff Daisys Hände. »Ihr Besuch hat mir auch gut getan«, bekannte sie lächelnd. »Wenigstens weiß ich jetzt, dass Sie ein liebevolles Zuhause hatten. Sie machen Ihrer Adoptivmutter alle Ehre. Behalten Sie das Foto von Ellen. Die Bilder, die ich brauche, habe ich im Kopf.«
Daisy fuhr direkt nach St. Mawes. Tim hatte ihr den Weg genau erklärt, und sie fand das kleine Haus am Hafen neben dem Pub »The Rising Sun«
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