Wenn tausend Sterne fallen: Roman (German Edition)
losgegangen«, erwiderte sie empört. Lucy sei selbst schuld, fügte sie hinzu, weil sie sie an den Haaren gepackt habe.
»Das weiß ich«, unterbrach er sie ungeduldig. »Tom hat es mir erzählt. Aber das ist noch lange kein Grund, deine Schwester mit einem Messer zu bedrohen.«
»Und das da?« Daisy tippte sich an die Nase. »Sie hat mich ins Gesicht geschlagen. Einfach so. Sie war wie von Sinnen. Ich hab das Messer genommen, damit sie mir vom Leib bleibt. Du hättest hören sollen, was sie mir alles an den Kopf geworfen hat!«
»Das ist keine Entschuldigung. Sie hat ihre Mutter verloren, Herrgott, da ist es doch verständlich, dass sie verstört ist und nicht mehr weiß, was sie sagt.«
Tief verletzt, entgegnete Daisy: »Auch ich habe meine Mutter verloren. Ich war genauso verstört.« Sie war laut geworden. »Anscheinend denkst du auch, dass ich bloß ein Kuckucksei bin und keine Rechte oder Gefühle haben darf.« Ihre Augen füllten sich mit Tränen.
»Unsinn, aber du bist fünf Jahre älter, und deshalb erwarte ich, dass du dich unter Kontrolle hast.« Johns Gesicht war rot vor Zorn. »Euer ständiges Gezanke hängt mir zum Hals heraus!«
Kontrolle war für Daisy ein Fremdwort. Sie war der Typ, der immer mit dem Kopf durch die Wand wollte, der zum Angriff überging, wenn Nachdenken angebracht gewesen wäre. Gekränkt, weil ihr Dad ihr die alleinige Schuld an dem Vorfall gab, schoss sie zurück: »Tausend Dank, Dad, dass du daran gedacht hast, dass ich es war, die Mum wochenlang gepflegt hat. Lucy war sie so total egal, dass sie ihr nicht mal die Haare waschen konnte. Und um alles, was in den letzten Tagen zu erledigen war, hab ich mich ganz allein gekümmert. Lucy hat nie auch nur einen Finger gerührt.« Sie holte Luft.
Das Gesicht ihres Vaters spiegelte keinerlei Einsicht wider, nur Verärgerung.
»Weißt du was? Ich ziehe aus«, fügte sie hinzu. »Vielleicht merkst du dann, was für ein selbstsüchtiges kleines Miststück Lucy in Wirklichkeit ist.«
Sie drehte sich um und rannte in ihr Zimmer hinauf. Mit tränenüberströmtem Gesicht warf sie ein paar Sachen in eine Reisetasche. Wenige Minuten später schlug sie die Haustür hinter sich zu und lief zu ihrem Wagen. Der alte VW Käfer sprang ausnahmsweise gleich beim ersten Mal an. Daisy fuhr nach Acton, wo Joel wohnte.
Joel war früher in der Navy gewesen und hatte sich die Wohnung bei seiner Rückkehr nach London gekauft. Er hatte sich lange geweigert, Daisy dorthin mitzunehmen – erst später verstand sie, warum. Es war eine winzige Zweizimmerwohnung im zweiten Stock eines kleinen, verwahrlosten Sozialbaus. Der einzige Vorteil war der günstige Preis gewesen. Außer einem Bett, einem Kühlschrank und einem Herd besaß Joel keinerlei Möbel, nicht einmal Vorhänge an den Fenstern.
Während er auf den Eintritt in den Polizeidienst gewartet hatte, hatte er die Wohnung renoviert und Teppichböden verlegt, und jetzt war es dort wirklich gemütlich, aber das scheußliche Betontreppenhaus wirkte nach wie vor schrecklich deprimierend.
Da Daisy nicht damit rechnete, dass Joel zu Hause war, schloss sie mit ihrem Schlüssel auf. Zu ihrer Überraschung stand er jedoch in Boxershorts vor ihr, als sie die Tür schloss und sich umdrehte.
»Na, das ist ja eine Überraschung!«, rief er verdutzt. Daisy brach in Tränen aus.
Joel war gut eins fünfundachtzig groß und muskulös, er hatte einen kräftigen Nacken und trug das Haar kurz geschnitten wie ein Kadett. Das jungenhafte, rosige Gesicht mit den langen, dunklen Wimpern und dem weichen, vollen Mund bildete einen seltsamen Kontrast zu seiner Figur. Aber so war Joel: Er steckte voller Widersprüche. Er sah aus wie ein taffer Bursche und konnte so zärtlich sein; er spielte Rugby und liebte Gedichte; im Auto hörte er Heavymetal in voller Lautstärke, daheim klassische Musik.
Daisy erzählte ihm, was passiert war. Er führte sie ins Schlafzimmer, drückte sie auf sein zerwühltes Bett und ging hinaus, um ihr einen Tee zu kochen.
In der Wohnung sah es wie immer chaotisch aus. Daisy räumte jedes Mal auf und legte seine Kleider ordentlich zusammen, doch davon war beim nächsten Besuch nichts mehr zu sehen. Für alles benutzte er sein Bügelbrett. Heute standen seine Stiefel darauf, als hätte er sie geputzt. Oft stapelten sich leere Faltschachteln von Schnellimbissen darauf, aber nur ganz selten stand dort ein Bügeleisen. Dabei war Joel sehr gepflegt. Er hatte immer saubere Fingernägel, er duftete nach
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