Wenn tausend Sterne fallen: Roman (German Edition)
ganzen Abend beibehielt, obwohl sie innerlich vor Hass zitterte, weil sie sie nicht liebten, weil sie sie zwangen, in dieser heruntergekommenen, zugigen alten Bruchbude zu hausen, weil sie so anders war als sie.
Sie brauchte ihre Mutter nur anzusehen, ihre dicken, blau-rot gefleckten Füße, die aus den neuen Hausschuhen quollen, ihren Silberblick, ihren plumpen, übel riechenden Körper, und sie wusste, sie würde nicht zögern, ihr Vorhaben auszuführen.
Rein äußerlich passte Ellen in ihrem wadenlangen, volantbesetzten dunkelgrünen Laura-Ashley-Feincordkleid mit Spitzenkragen und -manschetten nicht hierher. Sie trug dazu Schnürstiefel und sah aus, als stammte sie aus einer anderen Epoche.
Nachdem sie sich ins Wohnzimmer gesetzt hatten, öffnete sie eine Flasche ihres selbst gemachten Holunderweins. Sie lachten, schwatzten und becherten den Wein, als wäre es Limonade. Josie trank nur ein Glas. Sie tat, als amüsierte sie sich prächtig, während sie die anderen verstohlen beobachtete und dachte, sie würde ihre Eltern nicht einmal dann so zum Lachen bringen können, wie Ellen es vermochte, wenn sie eine der Sauen in Violets Sonntagskleid steckte!
Die Kerze auf der Geburtstagstorte wurde angezündet, alle sangen »Zum Geburtstag viel Glück«, und Albert erklärte, das schönste Geschenk sei, dass Ellen nach Hause gekommen sei.
Josie fuhr in die Raststätte von Taunton Deane, weil sie vor lauter Tränen fast nichts mehr sehen konnte. Sie stellte den Motor ab, ließ den Kopf aufs Lenkrad sinken und versuchte, sich wieder unter Kontrolle zu bekommen, doch es gelang ihr nicht.
Sie hatte an jenem Abend Höllenqualen gelitten. Ihre Eltern hingen an Ellens Lippen und wollten sich vor Lachen über ihre Geschichten aus der Schule kugeln. Wie oft hatte Josie sie mit lustigen Anekdoten über ihren Beruf aufzuheitern versucht, doch sie hatten jedes Mal abgewinkt und erklärt, sie wollten nichts darüber hören.
Später drehte sich die Unterhaltung um Landwirtschaft. Albert erzählte, wie viel Tonnen Weizen dieser und wie viel Tonnen Kartoffeln jener geerntet hätte. Im oberen Feld habe er Osterglocken gepflanzt, fügte er hinzu, weil er gehört habe, in London sei mit Blumen ein gutes Geschäft zu machen. Und Ellen lauschte ihm wie gebannt.
Irgendwann war Josie aufgestanden und hatte für alle einen Schlummertrunk aus heißem Whisky, frischem Zitronensaft und einem Löffel Honig zubereitet. Das war das Einzige, was sie Albert recht machen konnte: Er liebte dieses Getränk.
Dieses Mal gab sie ein paar Tropfen eines Antihistamins dazu. Sie hatte das Mittel vor Jahren von einem Londoner Apotheker gegen eine Allergie bekommen und trug es für den Notfall immer bei sich. Eine seiner Nebenwirkungen war, dass es müde machte. Als sie die Gläser ins Wohnzimmer trug, dachte sie bei sich, sie hätte ihnen auch Arsen in den Drink mischen können, und sie hätten es nicht bemerkt, so betrunken waren sie mittlerweile.
Sie tranken aus und schwatzten immer noch, und Josie fürchtete schon, sie würden hier unten einschlafen.
Dann endlich, kurz nach elf, verkündete Albert, er werde sich schlafen legen, und sie torkelten alle miteinander die Treppe hinauf. Das Letzte, was Josie von Albert hörte, war: »Vergiss das Kamingitter nicht, Dummbartel!«
Der verletzende Spitzname, mit dem er Josie bedachte, beseitigte auch die letzten Skrupel. Albert fand das komisch, doch für Josie kam es einer Ohrfeige gleich.
Sie wartete, bis sie das Knarren der Bettfedern und schließlich lautes Schnarchen hörte. Leise schlich sie die Treppe hinauf.
Ihre Eltern schliefen wie tot; das ganze Zimmer stank nach Whisky. Einen Augenblick stand sie da und betrachtete sie, wie sie auf dem Rücken lagen, die dicke Violet und der dünne, knochige Albert, und mit offenem Mund schnarchten, und sie fand sie so widerwärtig. Sie hatten sie ohne Liebe gezeugt und mit ihrer Niederträchtigkeit und Kälte ihr Leben zerstört. Sie hatten den Tod verdient.
Ellen schlief ebenfalls den Schlaf der Gerechten. Ihre Locken flossen wie rotgoldener Schaum über das Kopfkissen. Sie trug einen Pyjama ihrer Schwester. Josie zog Jeans und Pulli aus, streifte sich Ellens Strumpfhose und dann ihr Kleid über und stieg zuletzt in die Schnürstiefel.
In diesem Moment packte sie das schlechte Gewissen. Ellen und sie hatten auch schöne Stunden in dieser kalten, armseligen Kammer erlebt. Sie warf einen letzten Blick in die Runde, auf die alten, zerrissenen Poster von Elvis
Weitere Kostenlose Bücher