Wenn tausend Sterne fallen: Roman (German Edition)
verbrannte sie. Sie probierte alle ihre Kleidungsstücke an, band sich die Haare zurück und ließ ihre Augenbrauen wachsen. Sie wurde zur perfekten Kopie ihrer Schwester.
Selbst heute noch konnte sie die Türklingel hören, die Stimmen von Ellens Freunden, die durch den Briefschlitz in der Tür riefen, sie möge sie doch reinlassen. Sie öffnete nie, aber manchmal zeigte sie sich kurz am Fenster, damit der Besucher wusste, es war alles in Ordnung. Sie meldete sich auch niemals am Telefon, und manchmal legte sie einfach den Hörer neben den Apparat.
Bald kam niemand mehr, um nach ihr zu sehen. Trotzdem blieb sie in der Wohnung, sah fern, schlief und trank. Der Schule schickte sie ihre Kündigung, und als kein Gehalt mehr auf Ellens Konto überwiesen wurde, lebte sie vom Krankengeld.
Außer Mr. Briggs, den Anwalt, rief sie nie jemanden an. Zum Einkaufen fuhr sie in einen Supermarkt am andern Ende der Stadt, weil sie fürchtete, Bekannten von Ellen zu begegnen. Sie hasste jede Minute dieser endlos langen Monate, die sie in der Wohnung verbrachte, und litt unter der Angst, der Langeweile und der Einsamkeit. Doch mit jedem Tag, der verging, ohne dass die Polizei sie belästigte oder die Bank sich weigerte, einen Scheck einzulösen, weil die Unterschrift nicht mit jener in ihren Unterlagen übereinstimmte, kam sie ihrem Ziel einen Schritt näher.
Es begann in dem Moment zu regnen, als der Wegweiser nach Bristol in Sicht kam, und eine Sekunde lang schwankte sie. Doch sie fuhr weiter.
Die Kreuzung der M5, die in nördlicher Richtung nach Birmingham, in südlicher Richtung nach Exeter führte, und der M4 nach Wales war unerwartet schnell gekommen, und für einen Spurwechsel war es in dem dichten Verkehr zu spät. Josie, die sich auf der Spur nach Exeter befand, fuhr weiter.
Wo sie hinfuhr, war ihr im Grunde gleichgültig. Sie wünschte sich nur, bald eine Tankstelle zu entdecken, damit sie einen Kaffee trinken und Zigaretten kaufen konnte.
Ein Hinweisschild nach Clifton rief eine Erinnerung an Ellen wach. Josie war übers Wochenende zu ihr nach Bristol gefahren. Es musste neunzehnhundertneunundsechzig gewesen sein, auf dem Gipfel ihres Erfolges. Sie konnte sich nämlich erinnern, dass sie auf der Straße erkannt und um ein Autogramm gebeten worden war.
Ellen hatte ihr unbedingt Bristol zeigen wollen. Es war ein heißer, sonniger Tag, und Ellen trug ein langes, weißes Gazekleid und ein perlenbesticktes Stirnband. Diese Hippiesachen kleideten sie vorzüglich, sie sah frisch und bildhübsch aus. Josie dagegen schwitzte sich in ihrem schwarzen Maxirock aus Leder und der Lederweste fast zu Tode. Sie war den ganzen Tag schon schlecht gelaunt gewesen.
Nachdem sie sich die Hängebrücke angesehen hatten, kauften sie sich ein Eis und setzten sich in die Downs. Familien waren zum Picknicken gekommen, und ein langhaariger Typ, der kein Hemd, sondern nur eine grell gemusterte Hose trug, spielte Gitarre.
»Clifton ist wunderschön, findest du nicht?« Ellen schaute sich strahlend um. »Hier würde ich gern wohnen.«
»Such dir einen anständigen Job, dann kannst du dir das auch leisten«, blaffte Josie.
»Ich würde die Kinder nicht für alles Geld der Welt aufgeben«, erwiderte Ellen.
»Dein eigenes Kind hast du doch auch aufgegeben«, konterte Josie giftig.
Ellens Augen füllten sich mit Tränen. »Warum bist du so gemein?«, fragte sie einen Augenblick später. »Du weißt ganz genau, dass ich keine andere Wahl hatte. Kannst du dir überhaupt vorstellen, wie weh das getan hat?«
So viele Jahre waren seitdem vergangen, aber Josie wurde bei der Erinnerung daran immer noch rot. Warum war sie so gehässig gewesen? Ellens freundliche Art war viel sympathischer. Sie hackte nie auf den Schwächen und Fehlern anderer herum, sie suchte immer nur das Beste in den Menschen. Das war eines der Dinge gewesen, die Josie in ihrer Verkörperung von Ellen am schwersten gefallen waren. Doch als sie es schließlich beherrscht hatte, hatte sie festgestellt, es machte sie zufriedener, und manchmal hatte sie die Welt mit Ellens Augen gesehen.
»Trotzdem hat sie auch sterben müssen«, sagte Josie laut vor sich hin. »Es ging nicht anders. Du hattest keine Wahl.«
Es regnete jetzt so heftig, dass sie das Tempo drosseln musste. So hatte es auch geregnet, als sie in jener Nacht in Ellens Auto von Cornwall nach Bristol gefahren war. Kurz vor Exeter hatte es angefangen, und sie war in Panik geraten, weil sie befürchtet hatte, dass es zu Hause
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