Wenn tausend Sterne fallen: Roman (German Edition)
Spinnennetze zierten jeden Strauch, Waldreben hingen wie wollige Girlanden über den Hecken, und die Zweige des Holunders neigten sich unter der Last ihrer rötlich schwarzen Beeren.
Wenn Ellen normalerweise auf dem schmalen Waldweg nach Hause ging, ließ sie sich Zeit, hielt nach Eichhörnchen Ausschau, zerdrückte Holunderbeeren zwischen den Fingern, sodass sie sich tiefviolett färbten, und betrachtete prüfend die Kastanien, um zu sehen, wann sie reif waren. An diesem Tag jedoch nahm sie ihre Umgebung überhaupt nicht wahr. Ihre Gedanken kreisten unablässig um Sallys Worte. Als sie auf die Lichtung oberhalb des Farmhauses trat und ihren Vater ein Stück weiter unten Kohlköpfe ernten sah, rannte sie, so schnell sie konnte, zu ihm.
»Was hast du denn, meine Kleine?«, fragte er besorgt, als er ihr tränenüberströmtes Gesicht sah, und nahm sie tröstend auf den Arm.
In dem zerrissenen karierten Hemd, dem um den Hals geknoteten Taschentuch und der Moleskinhose sah Albert wie ein Zigeuner aus. Seine ledrige Haut war tief gebräunt, und das lange, lockige Haar wehte beim Gehen hinter ihm her wie eine Fahne. Früher war es dem seiner Tochter sehr ähnlich gewesen – rote Locken waren das Kennzeichen der Pengellys –, aber jetzt, mit siebenunddreißig Jahren, wurde es zunehmend dünner und grauer. Niemand im Dorf wusste so recht, warum er es nie schnitt. Einige alte Männer behaupteten, er ließe es seinem Vater zum Trotz wachsen, weil der ihn als Kind misshandelt und ihm den Kopf geschoren hatte, um ihn zu demütigen.
Aber keiner wagte es, sich über Alberts langes Haar oder sein unverdrossenes Bestellen dieses mageren, wenig ertragreichen Bodens lustig zu machen. Er wurde, obwohl er nur einen Meter zweiundsiebzig maß und schlank war, sogar als groß und kräftig beschrieben. Vielleicht lag das an seinen breiten Schultern, an den kräftigen Fäusten und seinem Ruf, dass man ihm besser nicht in die Quere kam.
Ellen sah ihn natürlich nicht so, denn er ging liebevoll mit ihr um und war gut zu Tieren. Freilich hatte sie auch nur wenig Vergleichsmöglichkeiten: Die einzigen anderen Männer, die sie kannte, waren Farmer und so kräftig und wortkarg wie ihr Vater.
»Sally Trevoise hat gesagt, meine Mum wäre verrückt, und deshalb wäre sie von einem Kliff gesprungen«, platzte sie heraus. »Sie hat behauptet, sie hätte auch ihr Baby getötet, und Josie wär gar nicht meine Schwester.«
Froh, dass es endlich heraus war, vergrub sie das Gesicht an der Schulter ihres Vaters und erwartete, ihn lachen und erwidern zu hören, das sei doch Unsinn. Aber er hielt sie nur fest und schwieg.
»Sie lügt, nicht wahr?«, fragte sie, traute sich aber nicht, ihn anzusehen.
Albert Pengelly stand da wie vom Donner gerührt. Von Natur aus ein ruhiger Mensch, der nicht besonders gebildet war und sich nur mühsam von seinem Land ernähren konnte, glaubte er, er habe nicht viel zu bieten. Das harte Leben und die Bitterkeit, die es mit sich brachte, hatten im Lauf der Jahre dazu geführt, dass er sich noch mehr in sich selbst zurückzog. Er hatte immer gewusst, er würde Ellen eines Tages die Wahrheit über ihre leibliche Mutter sagen müssen, aber er hatte nicht gedacht, dass dieser Tag so bald schon kommen würde. Im Stillen schwor er sich, Meg Trevoise für ihr böses, loses Mundwerk einen Denkzettel zu verpassen. Wie sollte er einer Achtjährigen etwas so Kompliziertes wie den Tod seiner ersten Frau erklären?
»Sie lügt, nicht wahr, Daddy?«, fragte Ellen noch einmal. Dieses Mal sah sie ihn direkt an. Er spürte die Anspannung in ihrem schmalen Körper. »Das da drin ist doch meine Mummy, oder?« Sie zeigte zum Haus hinüber.
Albert überlegte eine Sekunde. Er konnte ihr eine Lüge erzählen, und sie würde sie vielleicht sogar eine Zeit lang glauben, doch aufgeschoben wäre nicht aufgehoben. Es war besser, sie erfuhr die Wahrheit, so schmerzhaft sie auch sein mochte, jetzt gleich und von ihm, statt von einem andern.
»Violet ist deine Stiefmutter«, antwortete er. Er setzte Ellen ab, nahm sie bei der Hand und ging mit ihr vom Haus weg in Richtung Bucht hinunter. »Ich habe sie nach dem Tod deiner Mutter geheiratet.«
»Dann hat sich meine richtige Mummy also wirklich umgebracht?«, wollte Ellen leise wissen. »Aber warum? War ich ihr denn ganz egal?«
Albert hatte die Ansicht des Coroners, Clare habe sich in einem Augenblick geistiger Umnachtung in den Tod gestürzt und ihren Säugling mitgenommen, nie
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