Wenn tausend Sterne fallen: Roman (German Edition)
zwar nicht mehr an Josies Geburt erinnern, aber sie wusste noch, wie es gewesen war, als sie zu laufen anfing. Ihre Mum hatte sie ständig angeschrien, sie solle auf ihre kleine Schwester aufpassen, und manchmal, wenn Josie in den Schmutz gefallen war, hatte sie Ellen die Schuld daran gegeben. Vor Verwirrung begann sie zu weinen. Sie schnappte ihren Regenmantel vom Haken, rannte, ohne den Wasserhahn zuzudrehen, aus dem Schulhaus, über den Hof und auf die Straße.
Sie nahm die Abkürzung über die Felder. Es war trotzdem ein weiter Weg bis nach Hause, und sie hatte schon lange, bevor sie den Zauntritt erreichte und wieder auf die Straße kam, heftiges Seitenstechen. Das Herbsthalbjahr hatte erst vor drei Wochen begonnen, und doch wurde es schon merklich kälter. Starke Regenfälle hatten die Wege völlig aufgeweicht. Ellen wusste, sie würde Ärger bekommen, weil sie die Schule schwänzte, keine Gummistiefel angezogen hatte und weil Josie jetzt allein nach Hause gehen musste. Doch das alles schien nebensächlich zu sein. Wichtig war nur, ihren Dad zu finden und herauszubekommen, ob Sally die Wahrheit gesagt hatte.
Beacon Farm, der Besitz der Pengellys, erstreckte sich auf einer Länge von etwa einer Meile an der Straße zwischen Mawnan Smith und Maunporth. Das mochte sich nach viel anhören, aber es war kein gutes Ackerland, nur ein schmaler Streifen, der zu den Steilfelsen und zum Meer hinunterführte, ohne ein flaches Feld für den Getreideanbau, dafür mit einem undurchdringlichen Wald und sumpfigen Zonen. Nur ein Besessener würde versucht haben, dieses Land zu bestellen.
Besessen – oder zumindest stur – waren die Pengellys tatsächlich. Seit drei Generationen befand sich die Farm in Familienbesitz, und jede Generation hatte geglaubt, es sei besser, sich vom eigenen Land mühsam zu ernähren, als bei einem Fremden um Arbeit zu betteln.
Albert, Ellens Vater, hatte den Hof bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs geerbt, als sein Vater gestorben war, und er bewirtschaftete ihn fast noch genauso wie damals. Er hielt Kühe, Hühner und ein paar Schafe und baute Gemüse an. Wahrscheinlich hätte er sich nicht einmal dann neue, moderne Maschinen gekauft, wenn er das Geld dazu gehabt hätte. Er fand, sein alter Traktor und seine Muskelkraft genügten vollauf. In besonders schweren Zeiten fuhr er nach Falmouth und heuerte für ein paar Wochen auf einem Fischkutter an. So hatten es sein Vater und sein Großvater vor ihm gehalten; Albert kannte es nicht anders.
Dem Farmhaus sah man an, dass seine Bewohner von der Hand in den Mund lebten. Es lag in einer Senke, versteckt hinter einem Waldstück, sodass es von der Straße aus nicht zu sehen war, und befand sich in desolatem Zustand. Das Dach hing durch, die Fenster waren schief und krumm, Nebengebäude aus Holz und zusätzliche Räume waren wahllos an die ursprüngliche steinerne Zweizimmerkate angebaut worden. Innen sah es nicht besser aus. Es gab keinerlei modernen Komfort, und die Einrichtung bestand aus bunt zusammengewürfelten Gebrauchtmöbeln.
Die Lage des Hauses allerdings hätte idyllischer nicht sein können. Die Vorderseite lag zum Meer hin, rechts und links erstreckten sich bewaldete Hügel, und das Land davor fiel sacht zu einer kleinen Felsenbucht hin ab. Von dort oben hatte man zu jeder Jahreszeit einen wunderschönen Blick. Selbst im tiefsten Winter, wenn die Bäume kahl waren und das Meer dunkel und bedrohlich wirkte, war diesem Ort ein besonderer Zauber eigen. Die Wellen schlugen krachend gegen die Felsen in der Bucht, und die unbelaubten Zweige überzogen sich mit glitzerndem Raureif. Lila und weiß blühendes Heidekraut zwängte sich aus Felsspalten hervor, Hagebutten und Beeren schmückten die Sträucher mit ihren leuchtenden Farben. Im Frühjahr rauschte der von der Schneeschmelze weiter landeinwärts angeschwollene Fluss rechts vom Haus durch sein felsiges Bett zum Meer. An seinen Ufern wuchsen Schwertlilien, Glockenblumen, Schlüsselblumen und Veilchen in Hülle und Fülle. Rotviolette und rosarote Rhododendren bildeten üppige Sträucher. Und wenn dazu noch die neu geborenen Lämmer um ihre Mütter herumtollten, kam man sich vor wie in einem Märchenland. Im Sommer spendete das dichte Laubdach der Bäume kühlenden Schatten, die Wiesen leuchteten gelb von Butterblumen, und die Bucht war ein Paradies für Kinder.
Jetzt, Ende September, konnte man die ersten Anzeichen des nahenden Herbstes erkennen. Mit funkelnden Tautröpfchen besetzte
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