Wenn tausend Sterne fallen: Roman (German Edition)
mochte Josie mehr als sie.
»Sally hat dummes Zeug geredet, oder?«, wollte Josie plötzlich wissen. »Ich bin doch deine Schwester, nicht wahr?«
Ellen zögerte. Ihrem Vater wäre es nicht recht, wenn sie Josie erzählte, was er ihr anvertraut hatte. »Frag doch Mummy«, entgegnete sie scharf. »Sie weiß alles. Ich nicht.«
Violet Pengelly stand an dem kleinen Küchenfenster auf der Rückseite des Hauses und sah die Mädchen den Waldweg entlangkommen. Anstatt sich um Ellen zu sorgen, war sie wütend auf sie.
Da Violet eine Frau war, die zu oft übersehen und benutzt wurde, gärte die Wut ständig in ihr, aber sie hatte nur selten die Möglichkeit, ihr Luft zu machen. Jetzt bot sich eine solche Gelegenheit. Sie war überzeugt, ihre Stieftochter habe die sieben Jahre zurückliegenden Ereignisse bewusst aufgerührt und werde dadurch Schande über sie und ihre eigene Tochter bringen.
Vernunft zählte nicht zu Violets herausragenden Eigenschaften. Sie war ein schwerfälliges, fantasieloses Geschöpf, dem Logik fremd war. Sie kam gar nicht auf den Gedanken, dass eine Achtjährige völlig verstört sein musste, wenn sie hörte, die Frau, die sie Mummy nannte, sei gar nicht ihre leibliche Mutter, sondern ihre wirkliche Mutter habe sich und ihr Baby umgebracht. Violet war der Ansicht, die Tatsache, eine Stiefmutter zu haben, müsse Ellen mit Dankbarkeit erfüllen.
Sie wagte nicht oft, laut auszusprechen, was sie dachte, doch als Albert ihr von dem Vorfall in der Schule erzählt hatte, hatte die lange angestaute Wut sich Bahn gebrochen. Albert hatte sie daraufhin ins Gesicht geschlagen und sie als unmenschlich beschimpft, was sie noch mehr gekränkt und erbittert hatte. War es unmenschlich, von einem Kind Dankbarkeit dafür zu erwarten, dass sie in der Not für es da gewesen, es umsorgt und gefüttert hatte? Was hatte sie denn davon gehabt? Wie eine Dienstmagd wurde sie behandelt und in einem fort heruntergeputzt. Zu allem Überfluss musste sie mit ansehen, dass Albert an Ellen sehr viel mehr als an Josie lag.
Josie war der einzige Lichtblick in Violets Leben. Sie setzte ihre ganze Hoffnung, eines Tages vom Kartoffelernten, Hühnerfüttern und Kühemelken erlöst zu werden, in das hübsche Mädchen. Hätte sie diese Hoffnung nicht gehabt, wäre sie vielleicht Clare Pengellys Beispiel gefolgt und hätte sich in die Tiefe gestürzt. Sie hätte mehr Grund dazu als Clare. Diese hatte alles besessen, was Violet nicht besaß. Sie war wunderschön gewesen, aus einer wohlhabenden Familie, hatte eine gute Schule besucht und war von Albert auf Händen getragen worden. Violet hasste sie, obwohl sie sie nie kennen gelernt hatte. Hätte sie nur ein Zehntel dessen besessen, was Clare gehabt hatte, dann würde sie gewiss nicht in diesem Stall wohnen und sich für einen herzlosen Mann wie Albert zu Tode schuften.
Violet war als ältestes von sechs Kindern in Helston zur Welt gekommen. Ihr Vater hatte in einem Zinnbergwerk gearbeitet, aber die Grube war kurz nach Violets Geburt stillgelegt worden, und danach hatte er keine geregelte Beschäftigung mehr gefunden. Die Zwanziger- und Dreißigerjahre des zwanzigsten Jahrhunderts waren für alle Arbeiter in Cornwall eine schwere Zeit, doch die Bergleute in den Zinngruben traf es besonders hart: Vielen Familien blieb kein anderer Ausweg als das Armenhaus. Wenigstens das blieb Violets Familie erspart. Die Mutter, eine schwache, humorlose, nörgelnde Frau, jammerte mit jedem Kind, das geboren wurde, noch mehr. Ihre Unzufriedenheit ließ sie hauptsächlich an Violet aus, einem unscheinbaren Ding mit glattem, mattbraunem Haar, krummen Zähnen und einem leichten Silberblick, das daheim bleiben und sich um die jüngeren Geschwister kümmern musste, anstatt die Schule zu besuchen. Da sie kaum lesen und schreiben konnte, galt sie als begriffsstutzig und beschränkt.
Mit vierzehn wurde sie nach Plymouth verfrachtet, wo sie als Küchenhilfe in einem Hotel arbeitete, in dem sie auch wohnte. Die Arbeit war zwar schwer, aber sie hatte zum ersten Mal in ihrem Leben genug zu essen, ein Bett für sich allein und Ruhe vor ihrer murrenden Mutter. Mit seinen Schiffswerften, großen Kaufhäusern und Kinos war Plymouth viel aufregender als Helston, sodass Violet, obwohl sie sich als von der Familie verstoßen fühlte, fand, sie habe letztendlich doch einen guten Tausch gemacht.
Aber dann betrachtete sie drei Jahre lang die Verlockungen der Stadt nur aus der Ferne, wie ein Kind, das vor dem Schaufenster einer
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