Wenn tausend Sterne fallen: Roman (German Edition)
Amtsvormundschaft für dich beantragen.«
»Das würden die nie tun«, entgegnete sie mit einem Hauch von Verachtung. »Die wollen mich nicht zurückhaben, denen reicht es, wenn sie ab und zu einen Brief von mir bekommen, damit sie wissen, es ist alles in Ordnung.«
Mark stieß einen tiefen Seufzer aus. »Ich muss mir das noch mal durch den Kopf gehen lassen, Jojo. Ich will die Aufnahmen von heute erst entwickeln, sie ein paar Leuten zeigen und deren Reaktion abwarten. Dann sehen wir weiter.«
Er winkte dem Kellner und verlangte die Rechnung.
»Und was soll ich jetzt machen?«, fragte Josie. »Ich meine, wegen Beetle.«
Mark wandte sich zu ihr um und legte ihr den Finger unters Kinn. Seine Augen waren so dunkel, dass sie die Pupillen nicht erkennen konnte. »Das musst du schon selbst entscheiden. Ich bin nicht dein Babysitter.«
»Aber bin ich noch sicher, wenn ich weiter für ihn arbeite?«, fragte sie verzweifelt. »Ich brauche das Geld doch.«
»Jedenfalls sicherer als die anderen Mädchen. Mach es, wenn du auf das Geld scharf bist, aber erzähl niemandem von mir, und behalte das, was ich dir gesagt habe, für dich.«
Jetzt war sie genauso klug wie vorher. »Soll ich Ihnen meine Adresse geben?«
Er nickte, zog ein kleines Notizbuch und einen Kugelschreiber aus der Jackentasche und reichte ihr beides. »Es wird ein paar Wochen dauern, bis du von mir hörst. Und denk dran, kein Wort zu irgendjemandem. Es ist zu deinem eigenen Besten.«
Mark verabschiedete sich vor dem Restaurant von Josie und eilte zielstrebig zu seinem Auto. Es wäre höflicher gewesen, sie zu fragen, ob er sie mitnehmen könne, sich vielleicht sogar ihre Wohnung anzusehen, doch er wollte vermeiden, dass sein Eindruck von ihr, so, wie er sie durch das Objektiv seiner Kamera gesehen hatte, durch irgendetwas beeinträchtigt wurde.
Man sah ihm sein wahres Alter nicht an. Er war siebenunddreißig, alt genug, um Josies Vater zu sein, aber er hegte keine väterlichen Gefühle. Er hatte nur an das Geld gedacht, das er mit ihr verdienen könnte, als sie das Studio betreten hatte. Sie war bezaubernd, vielleicht sogar das schönste Mädchen, das er je fotografiert hatte, und alles an ihr war echt.
»Diese Haare«, sagte er zu sich selbst. Die rote, lockige Mähne würde ihr Markenzeichen werden. Sie wäre das ideale Model für Haarpflegemittel und Kosmetika, die Firmen würden sich um sie reißen. Es war aber nicht nur ihr Haar – ihre Haut, ihr Gesicht und ihre Figur waren einfach sensationell. Sie war allerdings nicht besonders gescheit und so unglaublich naiv, dass sie nach Erscheinen ihrer Fotos vermutlich ausgenommen werden würde wie eine Weihnachtsgans. Zu dumm, dass ausgerechnet Beetle sie aufgegabelt hatte. Er würde sie nicht ohne weiteres gehen lassen.
In England bahnten sich tief greifende Veränderungen an. Mark registrierte es in London Tag für Tag; man konnte es an den kleinen Modeboutiquen ablesen, die wie Pilze aus dem Boden schossen, an den Diskotheken und Clubs, der Musik in den Hitparaden oder der Stimmung der Menschen. Er hatte so etwas Ähnliches schon einmal erlebt, neunzehnhundertfünfundfünfzig. Da war er achtundzwanzig gewesen und hatte mit seiner Frau und den beiden Kindern in Birmingham gelebt, wo er in einer Fabrik gearbeitet hatte. Damals waren es die Teddyboys und die Anfänge des Rock ’n’ Roll mit Bill Haley and the Comets gewesen, die dramatische Veränderungen angekündigt hatten. Fotografieren war Marks Hobby. Er schoss Bilder von Teddyboys und ausgelassen tanzenden Jugendlichen und merkte auf einmal, dass er sein Hobby gern zum Beruf machen würde. Birmingham jedoch würde ihm kaum mehr zu bieten haben als Hochzeits- und Schulfotos. Er aber betrachtete seine Fotos als Kunst, und er wusste, wenn seine Arbeit irgendwo ernst genommen werden würde, dann in London.
Bei Kriegsende war er siebzehn gewesen, und die zwei Jahre Wehrdienst, zu denen er mit achtzehn einberufen worden war, hatten nicht dazu beigetragen, seinen Horizont zu erweitern. Wie viele seiner Freunde hatte er jung geheiratet, war wenig später Vater geworden und hatte gar keine andere Wahl gehabt, als sich einen sicheren Job zu suchen. Seine Familie im Stich zu lassen und sein Glück allein in London zu versuchen, mochte rücksichtslos sein, aber er wusste, wenn er bliebe, würde er es ihnen früher oder später verübeln, dass er in der Falle saß.
Die erwartete Revolution fand nicht statt. Die Frauen blieben weiterhin daheim bei den
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