Wenn tausend Sterne fallen: Roman (German Edition)
Kindern, die Männer schufteten für ihren Lebensunterhalt und trösteten sich mit dem Kauf eines Fernsehers oder eines Autos. Abgesehen von einem höheren Lebensstandard änderte sich für die meisten Menschen nach dem Krieg nicht viel. Mark jedoch registrierte diese kaum spürbaren Veränderungen und hielt sie mit seiner Kamera fest. Er dachte nicht eine Sekunde daran, nach Hause zurückzukehren.
Er schlug sich mit dem Verkauf seiner Fotos von Teddyboys, von Obdachlosen und Prostituierten in Soho, von Beatniks in Jazzclubs durch und erwarb sich nach und nach den Ruf eines Fotografen, dessen Bilder eine soziale Aussage hatten. Neunzehnhundertsiebenundfünfzig wurden seine Aufnahmen westindischer Einwanderer, die er bei ihrer Ankunft im Hafen von Southampton fotografiert hatte, mit einem Preis ausgezeichnet, weil es ihm gelungen war, die bange Sorge und die Hoffnung auf ihren Gesichtern einzufangen. Ein Jahr später brachten ihm die Fotos von Fußballfans, die um ihre bei einem Flugzeugunglück in München ums Leben gekommenen Idole von Manchester United trauerten, sowie jene von Rassenunruhen in Notting Hill weitere Anerkennung. Bald galt er als Fotograf mit sozialem Gewissen und wurde für Reportagen engagiert, für die besonders ergreifende Fotos gewünscht wurden.
Ein Jahrzehnt war vergangen, seit er Birmingham den Rücken gekehrt hatte. Wieder witterte er Veränderungen, und dieses Mal war er davon überzeugt, dass sie nicht einfach verpuffen würden wie Mitte der Fünfzigerjahre. Die Leute waren es leid, für geregelte Arbeitszeiten dankbar sein zu müssen, und die Reformen der Nachkriegszeit zum Beispiel im Gesundheitswesen und im Wohnungsbau waren ein alter Hut. Eine Wir-wollen-alles-und-zwar-sofort-Mentalität machte sich breit. Man sparte nicht mehr auf irgendetwas hin, man kaufte es sofort, und zwar auf Pump. Demonstrativer Reichtum, Opulenz und Dekadenz wurden bewundert, und das war es, was Mark auf seinen Bildern festhalten wollte. Obgleich er auch in Zukunft nicht auf Fotos als Spiegel sozialer Verhältnisse verzichten würde, hatte er keine Lust mehr, sich ausschließlich auf Penner, Slumbewohner, Rassenkonflikte und Streikposten zu konzentrieren. Er strebte ein höheres Niveau an, ein nobleres, privat wie beruflich.
Es durfte jedoch nicht der Eindruck entstehen, dass er sich verkaufte, sonst würde er von denselben Zeitungen, denen er seinen Aufstieg zu verdanken hatte, unter Beschuss genommen werden. Er hatte sich oft überlegt, wie er diesen Richtungswechsel bewerkstelligen könnte, ohne preiszugeben, dass ihn die Notlage der Menschen, die er fotografierte, völlig kalt ließ. Mark hatte immer nur eins interessiert: ein spektakuläres Foto zu schießen.
Jojo könnte der erste Schritt auf dem Weg nach oben sein. Nichts zog besser als eine Aschenputtel-Geschichte, und aus Jojos Leben ließ sich eine machen. Die arme Farmerstochter, die von zu Hause weggelaufen war und in London beinah ein Opfer der Sexindustrie geworden wäre – das war ein Stoff, der selbst einem Zyniker zu Herzen ging. Mark hatte bereits alles genau durchdacht: ein paar Schnappschüsse von einem verstörten, rehäugigen Mädchen mit einem alten Koffer in der Hand, das er, so würde er behaupten, zufällig in Paddington Station entdeckt hätte. Da ihn die Bilder nicht mehr losgelassen hätten, hätte er wochenlang nach ihr gesucht. Zusammen mit einem gewieften Journalisten würde er eine schockierende Reportage über Ausreißer und das böse Ende, das sie oft nahmen, machen. Doch dann, o Wunder, findet er das unbekannte Mädchen wieder, rettet es in letzter Sekunde, bevor es unter die Räder kommt, und nimmt es unter seine Fittiche.
Mark lächelte vor sich hin, als er den Wagen aus Paddington hinaus und nach Belsize Park steuerte, wo er wohnte. Es hatte ihn immer gewurmt, dass David Bailey so bejubelt wurde, obwohl er nichts anderes als schöne Frauen fotografierte, was jeder Laie mit einer schlichten Boxkamera genauso gut konnte. Sollte er ruhig vor Neid platzen, wenn er Jojo sähe! Mark würde sie vertraglich so fest an sich binden, dass sie sich von niemand anderem würde fotografieren lassen können. Jojo würde das Gesicht der Sechzigerjahre werden.
Während Mark an diesem Abend in seiner Dunkelkammer die Fotos von Josie entwickelte und die zum Trocknen aufgehängten Abzüge mit diebischem Vergnügen betrachtete, lag Josie auf ihrem Bett und weinte. Sie war verängstigt, verwirrt und wusste weder aus noch ein. Die volle
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