Wenn tausend Sterne fallen: Roman (German Edition)
war von einer Schule für behinderte Kinder in South Bristol, wo sie sich um eine Stelle als Betreuerin beworben hatte. Obgleich sie über keinerlei Erfahrung verfügte, hatte die Schulleiterin sie zwölf Mitbewerberinnen vorgezogen.
Der zweite Brief kam von Josie. Dieses Mal hatte sie eine Adresse in Chelsea und sogar eine Telefonnummer angegeben. Ellen war überglücklich über beide Briefe, aber der von Josie ließ die Zusage der Schule fast unwichtig erscheinen.
Liebe Ellen, las sie. Du bist bestimmt stinksauer auf mich, weil ich mich nicht mehr bei dir gemeldet oder dir meine Adresse gegeben habe. Aber ich hatte Angst, du könntest Mum verraten, wo ich bin. Du kennst sie ja, und wenn sie hier auftauchte, würde sie bloß alles kaputtmachen. Versprich mir, dass du ihr noch nichts sagst! Ich kann ihr vorerst nicht gegenübertreten, und ich nehme an, Dad und sie sind fuchsteufelswild wegen der Dinge, die in der Presse über sie geschrieben werden. Das stammt übrigens nicht von mir, es kommt hauptsächlich daher, dass Dad sich in der Redaktion des Mirror wie ein Irrer aufgeführt haben muss.
Mir geht es jedenfalls bestens. Ich habe eine schicke Wohnung in einer schicken Gegend und einen Schrank voll schöner Kleider. Mark meint, ich werde das »Gesicht der Sechzigerjahre« sein, er ist mein Fotograf und Manager. Er führt mich in Nobelrestaurants aus und stellt mich lauter tollen Leuten vor, und er sagt, alle finden, ich sei große Klasse.
Aber du fehlst mir. Hast du nicht Lust, übers Wochenende nach London zu kommen? Ich meine, wenn du nicht allzu böse auf mich bist. Ich könnte dir die King’s Road und die Carnaby Street zeigen. Es wird dir dort gefallen, es ist alles so aufregend.
Alles Liebe, Josie.
Ellen las beide Briefe ein paarmal. So wundervoll die Nachrichten für sie waren – sie wusste, Shirley würde weder von der einen noch von der anderen begeistert sein. Da sie das letzte Mal an Weihnachten um ein paar freie Tage gebeten hatte, hielten es die Sandersons für selbstverständlich, dass sie jedes Wochenende da war, um die Kinder zu hüten. Sie würden ihr die Bitte, zu ihrer Schwester nach London fahren zu dürfen, nicht abschlagen können, doch Ellen fürchtete, sie würden ihr das Leben schwer machen, sobald sie ihnen ihren Entschluss zu kündigen mitgeteilt hätte.
Seit anderthalb Jahren arbeitete sie nun für die Sandersons, und sie hatte inzwischen festgestellt, dass sie keineswegs so freundlich und großzügig waren, wie sie anfangs geglaubt hatte. Natürlich war es anständig von ihnen gewesen, ihr in ihrer Lage Arbeit und ein Zuhause zu geben, doch rückblickend erkannte Ellen, dass sie dabei in erster Linie an sich selbst gedacht hatten.
Nachdem sie sich vergewissert hatten, dass ihre Kinder bei ihr gut aufgehoben waren, hatten sie alles getan, um sich ihre billige Arbeitskraft zu erhalten. Das war auch der Grund für Shirleys Vorschlag gewesen, im Krankenhaus statt in dem Heim für ledige Schwangere zu entbinden. Sie hatte nicht aus Rücksicht auf Ellens Gefühle oder aus Sorge um die Zukunft von Mutter und Kind gehandelt, sondern aus Berechnung. Sie hatte ihre eigenen Interessen verfolgt und Ellen deshalb manipuliert und ihr damit die Möglichkeit der freien Entscheidung genommen.
Shirley liebte ihre beiden Jungen zwar, doch das Geschäft ging vor. Der Großhandel expandierte, und sie hatte bereits weitere Pläne, die allerdings voraussetzten, dass zu Hause alles reibungslos lief. So schnell würde sie bestimmt niemanden finden, der bereit war, in einer Abstellkammer zu wohnen und Kindermädchen, Köchin, Haushälterin, Putzfrau und Gärtnerin in einem zu sein, und das für drei Pfund die Woche.
Ellen musste sich oft beherrschen, wenn Shirley ins Geschäft ging, obwohl eins der Kinder krank war, oder wenn sie zusätzlich zu allen anderen Aufgaben auch noch ein Essen für mehrere Gäste zubereiten sollte. In letzter Zeit kam Shirley immer später nach Hause, die Kinder waren dann oft schon im Bett. Ellen wusste, Shirley würde beleidigt auf ihre Kündigung reagieren und anfangen, an ihr herumzunörgeln.
Außerdem würde sie sich eine Unterkunft in South Bristol, am andern Ende der Stadt, suchen müssen, aber solange sie jeden Tag bis spät in die Nacht arbeitete, war daran nicht zu denken.
Ellen ließ sich alles gründlich durch den Kopf gehen und kam zu dem Schluss, sich vorübergehend ein preiswertes Zimmer irgendwo im nahen Clifton zu suchen, sei die beste Lösung. Sie
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