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Wer anders liebt (German Edition)

Wer anders liebt (German Edition)

Titel: Wer anders liebt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karin Fossum
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suchen einen Mann.«
    »Ja, das stimmt.«
    »Einen Mörder«, fügte Sejer hinzu.
    Skarre sah ihm zu, wie er im Buch weiterblätterte.
    »Findet man den im Lexikon? Das wäre ja mal was Neues.«
    Sejer suchte weiter. Und hielt endlich bei einem schwarzweißen Bild von der Größe einer Briefmarke an.
    »Hans Christian Andersen«, stellte Skarre fest.
    Sie musterten das Bild schweigend. Sejer registrierte die schräge, niedrige Stirn, die große Nase, die Geheimratsecken und die Locken im Nacken. Genau wie Kristine Ris den Mann an der Schranke beschrieben hatte.
    »Wie viel sehen wir in einer Sekunde?«, fragte Sejer, »wenn uns auf der Straße jemand begegnet?«
    Skarre überlegte. »Nicht sehr viele Details«, meinte er. »Wir sehen eine Summe. Und unser Gehirn sucht automatisch nach etwas, das uns bekannt vorkommt.«
    »Wie dieser dänische Dichter«, sagte Sejer. »Er hat ein ganz besonderes Gesicht, nicht wahr? Es ist sensibel und stark zugleich.«
    »Schön ist er nicht gerade«, sagte Skarre.
    »Nein«, sagte Sejer. »Er hat etwas Weichliches. Und vielleicht verlieren wir ihn morgen. Vielleicht meldet er sich in aller Unschuld, und dann stehen wir ohne Spuren da. Vielleicht hat er einen Spaziergang gemacht, wie viele Leute an einem Sonntag im September.«
    »Ja«, sagte Skarre und nickte. »So kann es gewesen sein.«
    »Trotzdem«, sagte Sejer, »behaupten Reinhardt und Kristine Ris, dass das Gehen ihm eine gewisse Mühe machte. Und wenn das so ist, dann macht er vielleicht keine Waldspaziergänge. Wenn er nicht musste, weil er etwas loswerden wollte.«
    Skarre nickte.
    »Zugleich«, sagte Sejer daraufhin, »ist es gefährlich, das zu tun, was ich jetzt tue.«
    »Was tust du?«, wollte Skarre wissen.
    »Ich habe mich in ihn verbissen, ich sehe nur den dänischen Dichter. Und deshalb übersehe ich vielleicht andere Dinge.«
    »Wir haben ein kleines Stück gefunden«, sagte Skarre. »Das vielleicht nicht einmal zum ganzen Bild gehört. Aber so ist es doch immer am Anfang einer Ermittlung.«
    »Aber diesmal dürfen wir keine Zeit vergeuden«, sagte Sejer. »Denn dieser Mann kann wieder zuschlagen.«
    12
     
    Er hatte sich auf dem Sofa in eine Ecke verdrückt.
    Er hatte fast alle Lampen gelöscht und die Vorhänge geschlossen, er mochte das Halbdunkel, es gab ihm ein Gefühl von Sicherheit. Er hatte die Knie angezogen, in den Händen hielt er die rote knielange Hose, sie war aus dünnem, feinen Stoff und hatte eine weiße Innenhose und eine kleine Tasche. In der Tasche steckte ein süß riechendes Kaugummipapier. Sein erster Impuls nach dem Ereignis, das er lieber als »Unglück« bezeichnete, war gewesen, die Hose im Ofen zu verbrennen. Aber das hatte er nicht über sich gebracht, denn sie gehörte jetzt ihm, immer würde er diese Shorts besitzen. Wenn er sie ans Gesicht hielt, nahm er einen schwachen Uringeruch wahr, den er in tiefen Zügen einatmete. So saß er seit einer Ewigkeit da, während die Stunden dahinschlichen, während das Licht verschwand, um danach in einen neuen Tag hinüberzudämmern. Von nun an war nichts mehr sicher, er wusste nichts über seine Zukunft, ob er überhaupt eine hatte, oder ob jetzt vielleicht Schluss war mit allem. Er hatte nichts essen können und er hatte starke Kopfschmerzen, sie bohrten sich wie Stricknadeln in seine Schläfen. Das Telefon hatte geklingelt, sicher war es der Vater, er war nicht rangegangen. Er wusste, dass er ins Bett gehen müsste, aber er brachte es nicht über sich, aufzustehen, denn warum hätte er aufstehen sollen? Um zu schlafen? Um eine Arbeit zu verrichten, die er nicht hatte? Menschen zuliebe, die er nicht kannte? Gegen Mitternacht gab er auf, er drehte sich auf dem Sofa auf die Seite, noch immer die rote Hose ans Gesicht gepresst. Er griff nach der alten Wolldecke und bedeckte damit seine Beine, er hörte die Wanduhr ticken, schwerer als sonst, so kam es ihm vor, als künde jede Sekunde die große Katastrophe an, die Entlarvung, die Verurteilung, die Verachtung, es gab so vieles. Ihm schwindelte. Er sah sich in einem Gerichtssaal stehen, vor einem Meer aus hasserfüllten Gesichtern, sie schrien ihn an, sie sabberten und tobten, sie warfen ihm alles vor, das Leben, das er gelebt hatte, wer er war und was er getan hatte. Er selbst zitterte, während er eine Verteidigung vorbereitete, denn er hatte eine Verteidigung, aber er brachte keinen Ton heraus, er war stumm geworden. Seine Phantasie machte ihn nervös, sein Puls beschleunigte sich, wie nach einem

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