Wer anders liebt (German Edition)
riss sie sich zusammen und versuchte, ihn zu verteidigen.
»Vielleicht ist er nur ungeschickt«, sagte sie. »Vielleicht ist er ebenso erschüttert wie ich und kann es auf keine andere Weise zeigen. Ich meine, er ist ja ein Mann. Wenn es um Gefühle geht, sind die doch hoffnungslos.«
Irmelin schüttelte den Kopf. »Immer musst du so verständnisvoll sein«, sagte sie. Sie stand auf und ging zur Tür, hielt sich dort versteckt und spähte zu den Männern im Wohnzimmer hinüber.
»Doch«, flüsterte sie. »Du hattest recht, jetzt sehen sie sich die Bilder an.«
11
»Warum werden wir vom Tod anderer angezogen?«, fragte Skarre.
Sejer schüttelte den Kopf, er hatte nie so gedacht, er fühlte sich von keinem Tod angezogen, ließ sich nie von Sensationen verführen, nicht einmal als jungem Polizisten war ihm das passiert.
»Ich fühle mich nicht vom Tod angezogen«, sagte er. »Du etwa?«
»Aber wir befassen uns freiwillig damit«, sagte Skarre. »Das mit Jonas, das ist doch grauenhaft. Darum könnten sich andere kümmern, während wir uns mit netten Dingen beschäftigen.«
Sejer drehte sich eine Zigarette, die eine, die er sich jeden Abend gönnte, wie es sich für einen äußerst maßvollen Mann gehörte.
»Nette Dinge?«, fragte er misstrauisch. »Woran denkst du dabei?«
»Du hättest zum Beispiel Konditor werden können«, schlug Skarre vor. »Du könntest den ganzen Tag lang Sahnekuchen verzieren. Und winzig kleine Marzipanrosen herstellen.«
»Ich hätte nicht Konditor werden können«, sagte Sejer. »Sahnekuchen sehen nett aus, aber sie können nichts erzählen. Was würdest du lieber machen?«
»Ich wäre gern Präparator.«
»Du meinst, so einer, der Tiere ausstopft?«
»Ja. Eichhörnchen, Nerze und Füchse.«
Sejer hob den Hund auf seinen Schoß.
»Dann sag mir eins«, forderte er, »warum fühlst du dich von den Kriminellen angezogen?«
»Irgendwo im tiefsten Herzen bin ich vielleicht ein wenig neidisch«, sagte Skarre.
»Neidisch? Auf die Kriminellen?«
»Die greifen einfach zu. Die respektieren die Autoritäten nicht, wenn sie auf etwas Lust haben, nehmen sie es sich, und für uns haben sie nur Verachtung übrig. Das ist eine Art Rebellion, eine tiefe und ehrliche Unverschämtheit. Ich selbst bin extrem gesetzestreu, das grenzt fast schon ans Widerliche. Wenn du verstehst, was ich meine. – Warum finden alle Verbrechen so interessant«, fügte er dann hinzu. »Nichts verkauft sich so gut wie ein Mord, und je schlimmer der ist, um so mehr interessieren sich die Leute dafür. Was sagt das über uns?«
»Darauf gibt es sicher viele Antworten«, sagte Sejer. »Und die kennst du ebenso gut wie ich.«
»Aber du hast dir doch sicher deine Gedanken gemacht.«
»Vielleicht hat das etwas mit unserem Feindbild zu tun«, sagte Sejer. »Du weißt doch, alle Nationen haben ihr Feindbild, etwas, hinter dem das Volk sich sammelt. Im Krieg haben wir uns gegen die Deutschen zusammengeschlossen. Das hat Identität und Kameradschaft gestiftet, Tatkraft und Heldenmut. Man musste Partei ergreifen, und auf diese Weise konnten wir die Guten von den Bösen trennen. Aber im reichen Westen, wo Friede und Demokratie herrschen, ist diese Rolle den Kriminellen übertragen worden. Und ihre Taten sorgen dafür, dass wir uns zusammenschließen, wir haben genug Frieden und Verträglichkeit, wir brauchen Nervenkitzel und Bedrohung, denn dann fühlen wir uns lebendig. Aber das ist noch nicht alles. Es gibt einem auch eine positive Bestätigung, wann immer ein Mord geschieht.«
»Und die wäre?«, fragte Skarre.
»Nicht ich habe diese schreckliche Tat begangen, denn ich bin gut. Und außerdem bin ich diesem Verbrechen nicht ausgesetzt gewesen, denn ich habe Glück. Und dann gibt es noch einen dritten, unangenehmen Faktor. Einzelne Verbrecher werden zu Helden. Das hängt vielleicht mit dem zusammen, was du erwähnt hast. Ihrem fehlenden Respekt für Gesetz und Autorität, denn wir selbst sind so korrekt, und dieser Gehorsam in jeder Lebenslage kann zu Selbstverachtung führen.«
Er schaute zu Skarre hinüber.
»Würdest du etwas für mich tun?«
»Klar.«
»Würdest du zum Bücherregal gehen und Band eins des Lexikons holen?«
Skarre tat ihm den Gefallen, hob das schwere Buch aus dem Regal und legte es Sejer hin. Sejer schob den Hund auf den Boden, schlug das Buch auf und suchte den Buchstaben A. Skarre blieb hinter ihm stehen, während er blätterte.
»Was suchst du eigentlich?«
Sejer schaute auf.
»Wir
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