Wer bin ich ohne dich
Frauen heute immer noch als Objekte behandelt. Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Denn Frauen machen sich auch selbst zu Objekten. Weil Frauen, wie der französische Philosoph Pierre Bourdieu schreibt, »zuallererst für und durch die Blicke der anderen, das heißt als liebenswürdige, attraktive, verfügbare Objekte, existieren, geraten sie in einen andauernden Zustand körperlicher Verunsicherung«. Ständig, so der Philosoph, würden sie »den Abstand zwischen dem realen Körper, an den sie gefesselt sind, und dem idealen Körper, dem sie sich unermüdlich anzunähern streben, empfinden«.
Um diesen Zwiespalt auszuhalten, wählen Frauen häufig einen fatalen Ausweg, wie amerikanische Wissenschaftlerinnen um Rachel M. Calogero schreiben. Sie machen sich selbst zu Objekten. Selbstverdinglichung (»self-objectification«) nennen die | 106 | Wissenschaftlerinnen diesen Prozess. Nach dieser Theorie identifizieren sich Frauen als Objekt männlicher Begierde und machen den männlichen Blick zu ihrem eigenen. Sie haben so etwas wie einen inneren männlichen Betrachter, mit dessen Augen sie sich selbst sehen und be- und verurteilen. Attraktivität ist danach eine Art Währung für Frauen, mit der sie sich Zuwendung, Anerkennung, Akzeptanz erkaufen. Die Theorie der »Selbstverdinglichung« erklärt die hohe Bereitschaft, mit der sich viele Frauen den Schönheitsvorschriften einer Gesellschaft unterwerfen. Selbstverdinglichung aber bleibt nicht ohne Folgen. Sie führt zu Körperscham, Ängsten, Essstörungen – und Depressionen.
Die Maske der Tüchtigen
Der Stress der Frauen ist vielfältig. Er speist sich aus zum Teil völlig anderen Quellen als der Stress der Männer. Aufgrund ihres Geschlechtes und aufgrund ihrer Rolle geraten sie in Situationen, die Männer eher nicht erleben. Natürlich stehen auch Männer unter Stress, aber die hier aufgeführten Stressquellen sind spezifisch für ein Frauenleben: Die Doppelbelastung Beruf und Familie, die Sorge um die Bedürfnisse anderer Menschen, finanzielle Not, Gewalterfahrungen, die Bedeutung des eigenen Aussehens – all dies sind Faktoren, die so und in dieser Ausprägung keine männliche Erfahrung sind. Für die Psychotherapeutin Ellen McGrath stellen die spezifischen Stressquellen eine erhebliche Gefahr für die Gesundheit dar und können Depressionen verursachen, die so nur beim weiblichen Geschlecht zu beobachten sind.
Die Opferdepression: Sie resultiert aus Gewalterfahrungen, Missbrauch, Armut. Diese Depression wird verstärkt, wenn eine Frau aus erlernter oder realer Hilflosigkeit und wegen fehlenden Fä | 107 | higkeiten auf diese Opfererfahrungen nicht angemessen reagieren kann.
Die Beziehungsdepression: Sie entsteht, wenn der Wunsch einer Frau, sich über intime Beziehungen zu definieren und diese perfekt zu gestalten, mit der Realität kollidiert. Frauen werden depressiv, so McGrath, wenn sie erkennen, dass die immerwährende intime Beziehung – trotz ihres großen Einsatzes – ein unrealistischer Traum ist (dazu im nächsten Kapitel mehr).
Die Erschöpfungsdepression: Sie entsteht, wenn die weibliche Aufgabe des Sorgens für andere mit dem Wunsch nach beruflicher Leistung und Anerkennung kollidiert. Der Wunsch, es jedem recht zu machen, und das Bedürfnis, das eigene wahre Selbst ebenfalls zu seinem Recht kommen zu lassen, führen nach McGrath geradewegs in die Depression.
Die Body-Image-Depression: Viele Frauen entwickeln depressive Gefühle, wenn sie erkennen, dass ihr Körper den öffentlichen Standard von Schönheit, Schlankheit, Sex-Appeal, Jugend nicht erfüllt. Von Kindheit an lernen Frauen, dass ihr Körper und ihr Aussehen maßgeblich den Wert bestimmen, den sie für andere, vor allem für Männer, haben.
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Frauen, so kann man mit Fug und Recht behaupten, stehen unter Strom. Sie versuchen, wie die Müllerstochter im Märchen Rumpelstilzchen , aus Stroh Gold zu spinnen, das heißt: Sie versuchen, ihren eigenen hohen Anforderungen an sich selbst gerecht zu werden. Sie wollen es aber vor allem anderen recht machen, sie wollen nicht nur gut, sondern perfekt sein, und sie glauben, dass sie verantwortlich sind, wenn ihnen das nicht gelingt. Die Stress | 108 | faktoren im Leben einer Frau sind geeignet, sie an den Rand des Nervenzusammenbruchs – in die Depression – zu treiben.
Allerdings werden sie nicht von heute auf morgen krank. Die meisten betroffenen Frauen leben oftmals sehr lange mit einer verkappten oder, wie Experten sagen, »larvierten«
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