Wer Blut sät (Vater der Engel) (German Edition)
Treffen war immerhin schon mehr als ein halbes Jahr vergangen. Deshalb hatte Eddi auch keine Sekunde lang gezögert, als sie ihm gestern Nachmittag einen Besuch abgestattet hatte. Ihr Weg hatte das Paar direkt an den See geführt, zu dem weichen Gras am Ufer.
Josefine öffnete das schmiedeeiserne Tor zum Garten und folgte dem im schwachen Mondlicht liegenden Gartenpfad bis zur Haustür. Dies war die zweite sternenklare Nacht nach den Regenfällen. Sie war noch überhaupt nicht müde, und so setzte sie sich auf die kühlen Stufen der Haustürtreppe, um ein Weilchen nachzudenken.
Sie hatte schon sehr schnell kapiert, dass da etwas lief zwischen Herrn Adlam und dieser adeligen jungen Dame. Von Eddi war heute die Bestätigung für ihre Vermutung gekommen: Das Fräulein von Roder war auf der Dienststelle gewesen, um Herrn Adlam für die fragliche Nacht ein Alibi zu geben. Sie hatte keineswegs im Gästezimmer geschlafen, nein, sie war die ganze Zeit über bei Robert gewesen. Bis in die frühen Morgenstunden. Keine Zeit also für Herrn Adlam, um in den Bäckerladen einzubrechen, eine Leiche dort abzuladen und im Anschluss darauf womöglich noch mal eben den neuen Scarheimer Altar mit Blut zu beschmieren.
All dies war keine sonderliche Überraschung für Josefine. Das einzige, was sie wirklich wunderte, war, dass das feine Fräulein den Mut besessen hatte, zur Polizei zu gehen und die Wahrheit zu sagen. Es wäre doch so leicht für sie gewesen, einfach zu schweigen und die Geschehnisse aus dem fernen Lindheim als Unbeteiligte zu beobachten. Herr Adlam hatte ihr immerhin die Chance dazu gegeben, indem er darauf verzichtet hatte, sie als seine Zeugin anzugeben.
Ein Erstaunliches Verhalten, für eine adelige Dame aus reichem Hause. Meist lag dieser Art von Frauen doch nichts mehr am Herzen, als ihr guter Ruf und ihr blütenweißes Hemdchen.
An diesem düsteren Regentag, bevor das Wetter sich wieder gebessert hatte, war das Fräulein von Roder ein zweites Mal bei ihm gewesen. Direkt nachdem sie auf der Dienststelle ihre Aussage gemacht hatte. Die beiden waren in einem der Zimmer verschwunden, die mit alten Möbeln voll standen, und die höchstens drei- bis viermal im Jahr zum Durchlüften geöffnet wurden. Josefine war mehrmals an der Tür verbeigegangen und hatte ihre Stimmen dort drinnen gehört, aber sie hatte kein einziges Wort ihrer Unterhaltung verstehen können. Zumindest so lange, wie sie sich unterhalten hatten .
Josefine kamen Robert Adlams private Aufzeichnungen in den Kopf, die sie vor ein paar Tagen entdeckt hatte. Seine düsteren Spekulationen über diese schlechten Träume, die er hatte. Die Prophezeiung seines eigenen Todes.
War es möglich, dass jemand seinen Tod vorhersehen konnte?
Josefine starrte in den Nachthimmel und ihr Blick blieb an dem beinah kugelrunden, weißen Mond hängen. Sie wünschte sich, eine Sternschnuppe würde fallen und ihr einen Wunsch schenken. Dann würde sie in Robert Adlams Kopf schauen wollen, um seine Gedanken zu lesen. So würde sie auf den Grund aller Geheimnisse vorstoßen können, über die sie nun ständig nachgrübeln musste.
Josefine atmete tief durch und ließ die frische, kühle Luft in ihre Lungen strömen. Ihre Haut trug noch die kribbelnde Erinnerung von Eddis beinah kindlich sanften, streichelnden Händen. Dies weckte in ihr den Hauch eines schlechten Gewissens, denn während Eddi sich sehr bemüht hatte, ihren Körper zu liebkosen, waren ihre Gedanken weit, weit fort gewesen. Bei den finsteren Worten aus Robert Adlams Aufzeichnungen, bei den grauenvollen Ereignissen, die die Dorfbevölkerung in Angst versetzte. Und bei diesen schwarzen Augen, die wie eine feste, kalte Wand jegliches Eindringen von außen unmöglich machten.
Als hätte Robert Adlam gespürt, dass sie an ihn dachte und in ihrem Kopf riesige Probleme wälzte, mit denen sie nicht klar kam, erschien er plötzlich am Gartentor. Zuerst nahm er sie nicht wahr, sondern öffnete gedankenverloren das Tor und kam einige Schritte auf die Haustür zu. Dann hielt er inne und sah Josefine an.
Er war nur eine schwarze Gestalt in der Dunkelheit, als wäre er selbst Teil der Nacht.
Sie erhob sich. „Guten Abend, Herr Adlam.“
„Josefine?“
„Ja. Ich wollte nur... die Nachtluft tut so gut.“
Er kam näher heran, nach einigen Schritten konnte sie sein Gesicht im schwachen Mondlicht erkennen. Er schien müde und irgendwie... krank.
„Ich kann nicht schlafen“, erklärte sie ihm. „Ich mache
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