Wer Blut sät (Vater der Engel) (German Edition)
bis zu der Person, die sie heute darstellte.
Natürlich hatte sie keine Ahnung davon, dass ihm ihre Geschichte bekannt war. Aber er war sich sicher, sie würde sie ihm irgendwann freiwillig erzählen, sobald er ihr Vertrauen ganz und gar gewonnen hatte. Er wollte bei seiner Aufgabe behutsam vorgehen, denn er wusste genau, dass jeder noch so kleine Fehler ihr Misstrauen wecken konnte. Sie war zu schlau, um einem Dilettanten zum Opfer zu fallen. Die Situation erforderte sein gesamtes Einfühlungsvermögen.
Sie beschleunigten ihre Schritte, um möglichst viel von Annas kleiner Vorstellung mitzubekommen.
Das Mädchen durfte dem auf einem Bein stehenden Jongleur bunte Holzkeulen zuwerfen, die er sogleich auffing und in den Reigen seiner tanzenden Bälle lückenlos einreihte. Beifallsrufe bekundeten, dass dem Publikum die Darbietung gefiel.
„Prachtmädel!“ rief der Schausteller mit einem etwas angestrengten, breiten Grinsen im geschminkten Gesicht. „‘wirfst wie ein Junge!“
Die Leute klatschten und riefen durcheinander.
Inmitten der Menschenmenge, in der Nähe der lachenden Tante Agnes, blieben Konrad und Diane stehen. Dianes Blick war fest auf die kleine Schwester geheftet, deren süßes Kindfrau-Gesicht vor Freude strahlte. Diane klatschte in die Hände. „Bravo, Anna!“
Anna winkte ihr zu und warf gleich darauf dem Jongleur eine weitere Keule zu. Damit hatte der Mann es nun mit schweißtreibenden drei Bällen und vier Keulen zu tun.
Die Zuschauer honorierten dies mit lauten Zurufen.
Ein kleiner Junge mit struppigem Blondhaar ging mit einem Hut herum, um Geld für den Schausteller zu sammeln. Viele spendeten etwas Geld. Auch Konrad griff in seine Tasche und legte dem Kleinen einige Münzen in den Hut.
„So ein Schausteller muss viele verschiedene Talente haben“, sagte er zu Diane, die den Blick von ihrer Schwester und dem Jongleur losriss und ihn ansah. „Er ist Schauspieler, Akrobat, Clown und nicht zuletzt ein Lebenskünstler. Er hat bestimmt nicht immer einen vollen Magen, und trotzdem muss er jeden Tag lachen und tanzen und die Leute begeistern. Man weiß nicht, ob man ihn bemitleiden oder beneiden soll.“
„Wenn dieses Leben ihn glücklich macht, dann sollte man sich für den Neid entscheiden“, erwiderte Diane. „Weil es kaum jemandem jemals gelingt, das zu finden, was ihn glücklich macht.“
„Was würde denn S i e glücklich machen?“ fragte Konrad ganz unverblümt und schaute ihr prüfend in die Augen.
Um sie herum tobte die Menge, als der Akrobat begann, mit drei brennenden Kugeln zu jonglieren. Anna wurde aus ihrem ‚Dienst‘ entlassen und gesellte sich zu einer Gruppe johlender Kinder in der ersten Reihe, um mit wieder auf den Jongleur gerichtetem staunenden Blick zwischen ihnen zu verharren.
„Ich gehöre zu den Menschen, die noch auf der Suche sind“, erklärte sie ihm ernst und in ihren Augen erkannte er ein kurzes Flackern, so, als müsse sie an etwas denken, das sie vor ihm verbergen wollte.
Er schenkte ihr ein warmes Lächeln. „ Sie werden sicher finden, was Sie suchen. Ich glaube, dass Sie ein Glücksmensch sind.“
Sie hob fragend die Brauen. „Glücksmensch? Wie kommen Sie darauf?“
„Das ist nur so ein Gefühl“, lächelte er und nahm ihren Arm, um sie aus der Menschenmenge heraus zu führen. Sie hatte zwar das Interesse an der Vorstellung verloren, hielt aber sofort pflichtbewusst nach Anna Ausschau. Als sie entdeckte, dass ihre kleine Schwester sich gerade auf dem Weg zu ihnen befand, ließ sie sich von ihm weiter geleiten.
„Wissen Sie, ich habe gelernt, dass man vieles erreichen kann, wenn man sich nur nicht unterkriegen lässt“, meinte Sie und blickte dabei geradeaus. „ Vieles , aber noch lange nicht alles. “
Konrad beobachtete Anna, die die beiden im Eilschritt überholte und nach dem nächsten Gaukler Ausschau hielt.
„Und Sie suchen jetzt nach einem Weg, alles zu bekommen?“ fragte er sie mit Humor in der Stimme.
Diane wandte sich wieder ihm zu. Ihr Gesicht war ruhig, sie lächelte nicht.
„Es gibt keinen Weg, im Leben alles zu bekommen, was man sich wünscht“, sagte sie. „Und das ist vielleicht auch gut so. Wahrscheinlich können wir nur mit unerfüllten Wünschen wirklich leben. Denn was wäre das für ein Leben, in dem man sich um überhaupt nichts mehr bemühen muss, wo man sich nur noch zufrieden zurücklehnt und kein einziges Ziel mehr vor Augen hat.“
Konrad konnte sein Erstaunen über diese Antwort nicht verbergen.
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