Wer Blut sät (Vater der Engel) (German Edition)
genau überlegen, was du tust...“
Die Wahrheit
Als ich zum zweiten Mal in Johannas Augen sah, da war sie nicht mehr dieselbe: In ihnen lag kein Schimmer Hoffnung mehr, ihre Seele war zerschlagen. Sie erwartete nur noch den Tod, als die einzige Erlösung, die sie noch hatte. Es gab keinen Stolz mehr in ihr, keine Liebe und keinen Lebensdurst. Sie war das jämmerliche Überbleibsel eines Menschen, dem man die wahre Hölle auf Erden gezeigt hatte.
Es schien ihr nicht einmal mehr etwas auszumachen, dass sie ihren nackten Körper vor meinen Augen nicht bedecken konnte. Die Wunden und Prellungen an ihrem Leib waren bei weitem zahlreicher, als die, die Katharina von den Fäusten des Rothans davongetragen hatte. Überall klebte Schmutz und Blut.
Sie war vormals ein hübsches, junges Mädchen gewesen, mit einem gesunden Selbstbewusstsein und einem schönen Körper. Jetzt war sie nichts mehr von alledem, nur noch ein blasser Schatten ihrer selbst. Ich fühlte kein Mitleid, während ich vor ihr stand und sie anschaute. Und auch keinen Zorn, wie an jenem Tag, als Katharina verwundet und verzweifelt vor meiner Haustür gestanden hatte. In mir war es still und ruhig, so, als betrachtete ich nur ein Abbild der Realität, keinen wirklichen Menschen. Ihre blauen Augen starrten ins Leere, an mir vorbei. Egal, was man ihr jetzt noch antat, sie würde keine Gegenwehr mehr leisten. Was sie erlebt hatte, hatte ihren Willen gelähmt: Nein, sie war kein Mensch mehr, nicht im eigentlichen Sinne. Sie war ein jämmerliches, schwaches Geschöpf, das eher einem misshandelten Hund glich, als einem Wesen mit Verstand und Kraft.
Ich wandte mich von ihr ab und sah den Priester dort am Altar stehen, groß und mächtig, als sei er ebenso unerschütterlich, wie der Stein selbst. Das Flackern des Fackellichtes zauberte Bewegungen auf sein Gewand, sodass es wirkte, als sei der schwarze Stoff selbst zum Leben erwacht. Von diesem Mann ging wirkliche Kraft aus, mehr Lebensenergie, als hundert andere Menschen zusammen besaßen. Schon bei unserem allerersten Zusammentreffen hatte ich gespürt, wie vollkommen verschieden er von jeder anderen Person war. Nur mir selbst war er gleich, da auch ich am Rande der Gesellschaft stand und eine Kraft in mir trug, die mich zu einem völlig anderen Menschen machte, als jeder, der jemals zuvor um mich herum gewesen war.
Vielleicht hatte all dies eine Bedeutung, einen unbekannten Sinn: Vielleicht war ich wirklich mit der nicht zu bewältigenden Aufgabe beschäftigt, meiner festgefügten Bestimmung davonzulaufen. Langsam begann ich, an die Macht des Schicksals zu glauben.
Mit langsamen Schritten bewegte ich mich auf den Altar zu. Der Priester sah mir entgegen, die Hände erhoben, mit sich leicht bewegenden Lippen. Nein, diesmal versuchte er nicht, mich zu beeinflussen, mir seinen Willen aufzuzwingen. Was ich tat, tat ich aus freien Stücken, ohne dass man mich zwingen musste: Ich kniete vor dem Altar nieder, legte die Handflächen auf den kalten Stein und beugte den Kopf.
Als ich wieder aufsah, war der Priester mir gegenüber in die Knie gegangen, auch seine Hände ruhten auf dem Altar. Durch die schmalen Schlitze seiner Kapuze blickte er mir über den Stein hinweg direkt in die Augen. „Ist dir bewusst, wie sehr du gewachsen bist?“ fragte er mit leiser Stimme.
Ich antwortete nicht.
Meine Gedanken wanderten zu der letzten Nacht und dem gewaltigen Strom, den wir entfacht hatten. Es war wie eine gigantische Explosion gewesen, ein Meer von grellem Licht und eine Woge elektrisierender Energie. Sie war in jede Faser meines Körpers gedrungen und ich hatte sie aufgenommen, wie ein Verdurstender das Wasser verschlingt.
Wie eine Heilung hatte es sich angefühlt.
Wie das Verschließen vor langer Zeit geöffneter Wunden.
„Meine Leute sind dir nicht wohlgesonnen“, sprach Priester leise weiter. „Aber seit der letzten Nacht haben sie so etwas, wie Ehrfurcht gelernt. – Nur einer ist unter ihnen, der dich noch von damals kennt. Und auch ihm hat der Atem gestockt.“
„Du meinst also, sie denken jetzt nicht mehr an Lynchjustiz?“ fragte ich mit einem verhaltenen Lächeln.
„Keiner von ihnen wird es wagen, dich auch nur zu berühren“, gab er zurück. „Und das nicht aus bloßer Angst vor meinem Zorn.“
„Und wie steht es mit dir?“ fragte ich bewusst provokativ. „Glaubst du, für alle Zeiten vor mir sicher zu sein?“
Er gab ein leises, warmes Lachen von sich:
„Ich habe dich in jeder Sekunde deines
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