Wer Blut sät (Vater der Engel) (German Edition)
Gepeinigte Geister, die ich heraufbeschworen hatte.
Alles um mich herum stand wie erstarrt.
Nicolas’ Blick haftete mit stummer Ungläubigkeit auf den Stein, der mit einem lauten Krachen in der Mitte einriss. Die durch das Ritual erreichte Entrückung wich nur langsam von ihm, er schwebte zwischen zwei Welten. Auch die Umstehenden begriffen noch überhaupt nicht, was hier geschah.
Nur unser Meister funkelte mich zornig an. Ihm bot sich aber keine Gelegenheit mehr, mich auszuschalten, denn im nächsten Augenblick explodierte in einer Wolke aus Splittern, Staub und ohrenbetäubendem Lärm der Opferstein. Ich hielt die Arme schützend vor dem Gesicht. Große und kleine, scharfkantige Steine prasselten auf mich nieder. Eine dichte Staubwolke hüllte alles ein. Die irrealen Schreie steigerten sich zu einem einzigen, schrillen Pfeifton. Die Fackeln und Kerzen erloschen durch den Druck der heftigen Explosion. Staub und Dunkelheit umschlossen uns nun.
Ein Chaos brach aus.
Ich hörte die lauten Stimmen der Schwarzen Brüder um mich herum und verließ den Ort, an dem ich eben noch gestanden hatte, so schnell es ging, um niemandem die Möglichkeit zu geben, mich anzugreifen. Wie alle anderen konnte ich allerdings nur vage Schemen um mich herum sehen. In den Augen brannte mir zusätzlich der feine Staub, der überall in der Luft lag. Ich bewegte mich so schnell ich es vermochte vom Altar weg, wo ich die keuchende Stimme des Meisters vernahm. „Ich verfluche dich, Robert Adlam!“ brüllte er außer sich vor Wut.
Ich hatte gehofft, ihn mittels der Explosion zu töten oder zumindest schwer zu verletzen. Doch die Kraft seiner Stimme belehrte mich eines Besseren. Ich zog mich weiterhin still zurück und spürte dabei deutlich, wie er mich mit geschärften Sinnen in der staubigen Dunkelheit suchte.
Ein Sturm braute sich über den Wipfeln der Bäume zusammen und mir wurde deutlich bewusst, dass es mir gelungen war, die vollkommene Kontrolle zu erlangen über all die unsichtbaren Kräfte, die der Priester sich herbeizurufen bemüht hatte. Kahle, kleine Zweige wurden aus den Baumkronen gerissen und fielen herab auf die Erde. Der schrille Pfeifton, der noch immer die Luft erfüllte, ging in das Heulen des Windes über. Einer der Schwarzen Brüder erschien plötzlich direkt neben mir.
„Weg hier!“ forderte er mich mit vor Aufregung beinah überkippender Stimme auf. „Der will uns doch alle umbringen!“
In meiner Verkleidung war ich nur irgendjemand von ihnen.
Der Staub der Explosion hatte keine Zeit mehr, sich zu legen, er wurde von einem heftigen Windstoß wieder neu aufgewirbelt. Ich beschloss, dass es das Beste wäre, den Wald so schnell es ging zu verlassen.
Die mächtigen Finger des Sturms über uns rissen bereits große Äste aus den Bäumen des Waldes und schleuderten sie zur Erde. Ein hartes Holzstück traf mich schmerzhaft am Arm bei meinem Weg durch die finstere, staubige Nacht.
Und dann brach der Sturm richtig los.
Das fürchterliche Heulen des Windes erfüllte scheinbar die ganze Welt, denn es war überall um mich herum. Es flaute nicht einmal in kurzen Atempausen ab, wie man es von einem normalen Wind gewohnt ist, der in Böen kommt und geht. Aus den höchsten Baumkronen kamen ganze Lawinen von Schnee herunter und drohten, jedes Lebewesen unter sich zu begraben. Alles, was nicht wirklich fest mit der Erde verwachsen war, wurde von den starken, kalten Händen des Sturms durch die Luft geschleudert: Äste, Zweige, welkes Laub, ganze Kubikmeter nassen Waldbodens, sogar große Steine. Der Weg aus dem Wald war ein Kampf gegen den Sturm und seine verrückten, gefährlichen Spiele. Ihm konnte man nur mit sehr viel Glück entfliehen.
Dem Chaos zu entkommen fiel auch mir, der es eigenhändig entfacht hatte, nicht leicht. Genau wie die wenigen anderen, die lebendig von der Stätte des Rituals fliehen konnten, trug ich einige Verletzungen davon. Steinsplitter und Äste hatten mich getroffen. Mein Körper war von Prellungen und blutenden Wunden übersät. Doch das spürte ich kaum. Denn alles wurde übertönt von einem starken inneren Schmerz: Dem Schmerz des Verlustes. Das Bewusstsein, dass alles, was ich in den letzten beiden Jahren gewonnen hatte, für immer vorbei und verloren war, lastete auf mir. Ein ganz neuer Weg musste nun eingeschlagen werden, darüber war ich mir im Klaren. Ich musste mich von nun an wieder vollkommen auf mich selbst verlassen, und nur auf mich selbst.
Nicolas hat die Nacht des Sturms
Weitere Kostenlose Bücher